ls wir Lily aus Ghana aus der Sklaverei am Volta-Stausee befreien wollten, schien es, als kämen wir zu spät. Unser lokales Ermittlungsteam und die Polizei erreichten den Einsatzort – doch Lily war nicht mehr dort. Was war passiert? War sie in Sicherheit? Entschlossen, Antworten zu finden, verfolgte unser Team jede Spur. Als sie das Mädchen endlich fanden, erlebten sie eine unerwartete Überraschung: Lily war bereits in Freiheit!
Lily lebte bei ihrer Großmutter in der Volta-Region. Als sie in der dritten Klasse war, kam ein Fischer zu Lily nach Hause. Er versprach ihrer Großmutter, für Lilys Schulkosten aufzukommen und ihr eine Nähmaschine zu schenken, wenn das Mädchen für ihn arbeite. So könne Lily sich ihren Traum verwirklichen, Schneiderin zu werden.
Gefangen in Ausbeutung und Gewalt
Die Versprechen des Fischers ließen Lilys Großmutter hoffen, dass er für das Mädchen besser sorgen würde, als es ihr möglich war. Und so ging Lily mit dem Fischer an den Volta-See.
Doch Lily wurde nie in der Schule eingeschrieben. Sie bekam nie die ersehnte Nähmaschine. Stattdessen musste das zehnjährige Mädchen die Fischer bekochen und im Haushalt schuften, Fisch räuchern und auf dem Markt verkaufen.
Lily musste sogar mit dem Boot auf den Volta-See hinausfahren, um Fischernetze einzuholen. Eine gefährliche Arbeit, bei der schon oft Kinder ertrunken sind.
"Ich konnte weder Schwimmen noch Fischen, aber ich musste es tun, weil ich für jeden kleinsten Fehler geschlagen und beschimpft worden wäre", erzählt die damals Zehnjährige. "Das hat Narben hinterlassen."
Vier Jahre lang musste Lily brutale Unterdrückung und Gewalt bis hin zu sexuellem Missbrauch durch den Fischer und seine Söhne erdulden. "Ich stellte meine Existenz in Frage und fragte Gott, warum er mich in diese Welt gesetzt hat", erinnert sie sich.
Gerechtigkeit schlägt Wellen
Eines Tages jedoch brachte der Fischer Lily völlig überraschend auf eine andere Insel auf dem See. Der plötzliche Aufbruch wirkte hektisch. Doch warum?
Im Frühjahr hatten sich Gerüchte herumgesprochen: Die Polizei hätte in Dörfern am Volta-Stausee Kinder befreit, die auf Fischerbooten arbeiten mussten und die Bootsbesitzer verhaftet. Dem Fischer kam zu Ohren, dass Ermittlerinnen und Ermittler von IJM den Behörden geholfen hätten, die Kinder zu finden.
Nur wenige Monate später kursierten Berichte um eine zweite Polizeioperation in der Region. Hinweise von Kindern, die im Frühjahr befreit worden waren, hätten IJM und die Polizei zu weiteren Mädchen und Jungen geführt, die auf dem See arbeiten mussten. Wieder waren Fischer verhaftet worden.
Die Lage war klar: Die Polizei war entschlossen, noch mehr Kinder von den Fischerbooten zu holen und die Bootsbesitzer wegen Sklaverei zu verhaften.
Seit mehreren Jahren arbeitet IJM Ghana intensiv mit lokalen Akteuren zusammen, um das Bewusstsein von Justiz und Regierung dafür zu stärken, dass Kinder in der Fischerei am Volta-Stausee versklavt werden.
Unsere ghanaischen Kolleginnen und Kollegen schulen Polizei und Behörden beispielsweise darin, Anzeichen von Kinderhandel und Arbeitsausbeutung zu erkennen und gezielt danach zu ermitteln.
Mit Erfolg! Zwischen 2019 und 2021/2022 stieg der Anteil der Einsätze zur Befreiung von Kindern, die von den ghanaischen Behörden und nicht von IJM angestoßen wurden, von 3 Prozent auf 30 Prozent.
Unaufhaltsam begann Gerechtigkeit Wellen zu schlagen. Und mit ihnen breiteten sich Freiheit und Sicherheit aus. Nicht nur für die Kinder, die aus Sklaverei befreit werden konnten. Sondern auch für andere, die in Zukunft vor Täterinnen und Tätern geschützt werden, die vom Rechtssystem zur Verantwortung gezogen werden.
Auch den Fischer, der Lily in Sklaverei gefangen hielt, befiel die Angst, dass ihn sein Verbrechen plötzlich einholen könnte. Getrieben von der Furcht verhaftet zu werden, brachte er Lily auf schnellstem Weg zu ihrer Großmutter zurück.
Dorthin führte schließlich die Suche nach Lily auch unsere lokalen Ermittlerinnen und Ermittler. Wie durch ein Wunder fanden sie das Mädchen frei und in Sicherheit. Gerechtigkeit hatte sich durchgesetzt!
Gemeinsam die Welle weitertragen
IJM bot Lily an, sie in der Nachsorge zu begleiten und ihr zu helfen, ihre traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten. Außerdem halfen wir ihr, ihren großen Wunsch zu erfüllen: eine Ausbildung zur Schneiderin.
"Ich bin so glücklich, weil ich jetzt ein bisschen Englisch sprechen und auch Kleider nähen und elegante Hochzeitshüte entwerfen kann," freut sich Lily heute.
Lily leitet inzwischen eine lokale Aktivist/-innengruppe des Global Survivor Network (Globales Netzwerk Betroffener). In einer Schulung von IJM haben Lily und andere Betroffene gelernt, mit der Kraft ihrer eigenen Geschichte Veränderung anzustoßen. So wollen sie gemeinsam in ihren Gemeinschaften Bewusstsein schaffen gegen Sklaverei:
"Ich weiß, dass es auf dem See viele Kinder gibt, die immer noch ausgebeutet werden. Ich will Menschen aufklären und dafür sorgen, dass diese Kinder befreit werden. Ich appelliere an die Eltern, ihre Kinder bei sich bleiben zu lassen. Lasst nicht zu, dass eure Kinder fortgehen, um für andere zu arbeiten", sagt Lily.
Lily ist heute frei, über ihre Zukunft selbst zu bestimmen und ihre Träume zu erfüllen. Diese Freiheit will sie weitergeben. Gemeinsam mit anderen trägt Lily die Welle der Gerechtigkeit weiter. Denn sie muss noch größer werden. Bis alle Kinder sicher sind vor Gewalt und Sklaverei.
Wo sich Gerechtigkeit ausbreitet, sind in Zukunft tausende betroffener Kinder sicher vor Gewalt und Ausbeutung. Aus deiner Spende heute wird Freiheit für viele Menschen in der Zukunft. Mach mit uns Welle!