iracle* aus Indonesien wurde gezwungen, Menschen aus anderen Ländern über das Internet zu betrügen. Denn der versprochene Traumjob, dem sie hoffnungsvoll ins Ausland gefolgt war, führte sie in die brutale Ausbeutungsindustrie des "Online-Scammings". Gefangen hinter Stacheldraht zwang sie die Angst vor Bestrafung, jeden Tag ein Verbrechen zu begehen. Erst ein heimlicher Telefonanruf brachte eine entscheidende Wendung.
Als Touristenführerin auf der idyllischen Insel Batam hatte Miracle hart auf ihr Ziel hingearbeitet, genug Ersparnisse für ihren Ruhestand beiseite zu legen. Als ihr eine Freundin einen verlockenden Job in Kambodscha anbot, schien sich der 45-Jährigen eine perfekte Gelegenheit zu eröffnen: ein monatliches Gehalt von 1.000 US-Dollar bei kostenfreier Verpflegung und Unterkunft.
"Meine Freundin bat mich, ihr meinen Lebenslauf zu schicken. Da ich Mandarin und Englisch spreche, versicherte sie mir, dass ich mehr verdienen könnte als jede durchschnittliche Arbeitnehmerin aus Indonesien," sagt Miracle.
Vom Traumjob zum Albtraum
Doch kaum in Kambodscha angekommen, wurden Miracle und die anderen Arbeitskräfte wie Gefangene behandelt. "Die ‚Arbeitgeber‘ nahmen uns Pässe und Handys ab. Danach haben wir diesen Ort nicht mehr verlassen. Wir aßen, schliefen und arbeiteten im selben Gebäude," erinnert sie sich an die Ereignisse.
Miracle verstand schnell, dass sie sich nicht auf einen gewöhnlichen Online-Marketing-Job eingelassen hatte. Tag für Tag wurden sie von den Menschenhändler/-innen gezwungen, ahnungslose Menschen über das Internet zu betrügen. Sie war gefangen im "Online-Scamming" – Zwangsbetrug – einer der weltweit komplexesten und am schnellsten wachsenden Formen von moderner Sklaverei.
Miracle musste über falsche Social-Media-Profile und Bilder vortäuschen, dass sie reich war. In der Rolle von erfundenen, besonders attraktiven Persönlichkeiten sollte sie in Chats über gängige Kurznachrichtendienste das Vertrauen ihrer Zielpersonen gewinnen. War das gelungen, führten weibliche Models Videoanrufe mit den Betrugsopfern durch und forderten sie auf, ihr Geld in betrügerische Krypto-Anlagen zu investieren.
Online-Scamming Standort in S'ang, Kambodscha.
Satellitenfoto ©2023 Maxar Technologies.
Miracle fühlte sich schlecht dabei, Menschen online mit Betrugsabsicht zu täuschen. Die meisten ihrer Zielpersonen waren zwischen 45 und 90 Jahre alt und kamen aus europäischen oder asiatischen Ländern. Jeden Tag musste sie drei Personen betrügen. Misserfolge wurden körperlich bestraft. Um nach Hause gehen zu können, hätte sie über 2.800 US-Dollar zahlen müssen, um sich freizukaufen.
"Ich fing frühmorgens an und ging erst spätabends in meine Unterkunft zurück. Wenn ich ein Ziel nicht erreichte, musste ich 50 Liegestütze machen. Zwei verfehlte Ziele bedeuteten 100 Liegestütze. Eine der schrecklichsten Szenen, die ich erlebt habe, war, als ein Aufseher einen Kollegen mit einem Stromschlag tötete, nachdem er einen Fehler gemacht hatte. Ich wollte ihn retten, aber ich konnte nichts tun," schildert Miracle die brutalen Bedingungen in den Online-Scamming-Anlagen.
"Kambodscha ist bei weitem nicht das einzige Land, in dem das Phänomen der Online-Scamming Sklaverei auftritt. Es gibt Berichte aus Laos, Myanmar, den Philippinen und vielen anderen Ländern. Das regionale Ausmaß der Online-Betrugsindustrie und der damit einhergehenden menschlichen und finanziellen Ausbeutung ist äußerst schwer zu erfassen,“ weiß Jacob Sims, Landesdirektor des IJM-Büros in Kambodscha.
Miracles Hilferuf wird gehört
Doch das Glück war auf Miracles Seite. Mit einem versteckten Handy kontaktierte sie heimlich ihren Bruder und bat ihn um Hilfe. Er wandte sich an eine Behörde der Vereinten Nationen, die ihn an IJM Kambodscha verwies. Kurz nachdem die Ermittlungen aufgenommen worden waren, gelang es der kambodschanischen Polizei, Miracle und acht weitere Betroffene zu befreien.
"Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn die Polizei zu spät gekommen wäre. Vielleicht wäre ich an andere ‚Arbeitgeber‘ weiterverkauft oder sogar gefoltert worden,“ berichtet Miracle. „Nachdem ich mit anderen Betroffenen aus dem Lager entkommen war, verstand ich, was Freiheit wirklich bedeutet.“
Zusammen mit den anderen Betroffenen kehrte Miracle im Juli 2022 nach Indonesien zurück. Die Menschenhändler/-innen, die sie betrogen hatten, wurden verhaftet. Bestärkt durch den rechtlichen Beistand von IJM, sagte Miracle im November 2022 vor Gericht gegen sie aus. Dank ihres Muts konnten zum ersten Mal drei Täter/-innen wegen Zwangsbetrugs zu drei und vier Jahren Haft sowie zu Entschädigungszahlungen verurteilt werden.
IJM setzt sich an vorderster Front gemeinsam mit Regierungsbehörden dafür ein, erzwungenen Online-Betrug zu beenden. Die IJM-Büros in Kambodscha, Thailand, Myanmar, auf den Philippinen und in Malaysia arbeiten eng mit Landesregierungen und ausländischen Botschaften zusammen, um Betroffenen zu identifizieren und ihre Befreiung und Rückführung in ihre Heimat zu ermöglichen. Gemeinsam sorgen wir für rechtliche Unterstützung und Nachsorge und ziehen Kriminelle zur Verantwortung. Seit Anfang 2022 konnten wir so innerhalb von 18 Monaten mehr als 200 Betroffenen, wie Miracle, zur Seite stehen.
Du kannst Betroffenen wie Miracle helfen. Deine Spende macht einen Unterschied. Deine Unterstützung ermöglicht es IJM, Betroffene zu befreien, sie zu unterstützen und zu betreuen und sich für eine Welt ohne Sklaverei einzusetzen.
* Zum Schutz der Betroffenen verwenden wir ein Pseudonym.