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EU lässt Kinder schutzlos gegenüber sexuellem Missbrauch online

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EU lässt Kinder schutzlos
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er auf europäischer Ebene diskutierte Entwurf einer Verordnung zur Prävention und Bekämpfung sexuellen Missbrauchs von Kindern stößt auf erheblichen Widerstand. Doch hinter diesen hart geführten Diskussionen und den nüchternen Zahlen verbirgt sich ein Status Quo, bei dem weiterhin Menschen ungeschützt Gewalt aussetzt sind. Solange das Phänomen Livestreaming nicht in seiner Einzigartigkeit und seiner Tragweite verstanden und angemessen bekämpft wird, werden Maßnahmen nur Symptombehandlung sein.

Dabei verfehlt der Entwurf in seiner derzeitigen Form aus kinderrechtlicher Perspektive die notwendige Schutzwirkung. So darf die Verantwortung, sich vor sexualisierter Gewalt zu schützen, nicht allein auf Kinder oder ihre Eltern verlagert werden, wie exemplarisch die Geschichte von Rosie zeigt.

Rosie* (Pseudonym) aus den Philippinen war 10 Jahre alt, als ihr Zuhause für sie plötzlich nicht mehr sicher war. Von der eigenen Mutter über das Internet verkauft, musste sie traumatischen sexuellen Missbrauch erdulden.

Sie spricht bis heute nicht über das, was sie erleben musste. Aber ihre beiden älteren Zwillingsschwestern berichteten davon, wie ihre Mutter versuchte, sie immer wieder zu überreden, bei ihren “Livestreaming Shows“ mitzumachen.

Mit einer Webcam in Rosies Wohnzimmer wurden solche „Shows“ über das Internet an kriminelle Täter** in der ganzen Welt übertragen. Sie bezahlten dafür, sexuelle Handlungen an Kindern zu sehen und „dirigieren“ zu können. Versuche der Schwestern, Rosie zu schützen, indem sie sich selbst anboten, glückten nicht immer – ihre Mutter bestand oft darauf, dass Rosie selbst in den Livestreams auftrat.

Rosies Geschichte ist kein Einzelfall. Fast eine halbe Million Kinder auf den Philippinen, das heißt etwa jedes 100. Kind, wurden im Jahr 2022 ausgebeutet, um Darstellungen sexuellen Missbrauchs zu produzieren. Dies geht aus Schätzungen der wegweisenden Prävalenzstudie „Scale of Harm“ der Menschenrechtsorganisation International Justice Mission (IJM) und des Rights Labs der Universität Nottingham hervor, die gemeinsam mit ehemaligen Betroffenen dieses Verbrechens entwickelt wurde.

Und es ist mitnichten ein auf die Philippinen begrenztes Problem: Die sexuelle Online-Ausbeutung von Kindern (engl.: Online Sexual Exploitation of Children; OSEC) ist ein Verbrechen, das im Verborgenen verübt wird und nationale Grenzen überschreitet. Die Täter auf der Nachfrageseite stammen aus aller Welt – auch aus Deutschland. Es besteht akuter Handlungsbedarf, vor allem mithilfe von politischen Maßnahmen, die nicht eine alleingültige Universallösung suchen, sondern differenziert die verschiedenen Formen von digitaler Gewalt an Kindern adressieren.

Das Verbrechen verstehen, um es zu bekämpfen

In Deutschland und Europa wird das Thema Kinderschutz im Internet aktuell intensiv diskutiert: Zum ersten Mal hat das Bundeskriminalamt (BKA) im Oktober 2023 ein Bundeslagebild für 2022 veröffentlicht, in dem die abscheuliche Realität der sexualisierten Gewalt an Kindern und Jugendlichen im Internet abgebildet wurde. Im Bundestag diskutiert der Rechtsausschuss über die Speicherung von IP-Adressen, während das EU-Parlament sowie der EU-Rat kurz davor stehen, ihre Änderungsentwürfe zu einer Verordnung der EU-Kommission zur Behinderung und Bekämpfung von Kindesmissbrauch zu beschließen. Doch hinter diesen hart geführten Diskussionen und den nüchternen Zahlen verbirgt sich ein Status Quo, bei dem weiterhin Menschen ungeschützt Gewalt aussetzt sind. Solange das Phänomen Livestreaming nicht in seiner Einzigartigkeit und seiner Tragweite verstanden und angemessen bekämpft wird, werden Maßnahmen nur Symptombehandlung sein.

Jugendliche und Kinder wie Rosie werden in Ländern wie den Philippinen zu sexuellen Handlungen vor laufender Kamera gezwungen. Auf der anderen Seite des Bildschirms sitzen Männer aus aller Welt, die vom Komfort ihres Zuhauses aus und nahezu anonym dafür bezahlen, bei diesem grausamen Missbrauch Regie zu führen. Aus dem Bundeslagebild wird deutlich: Im Jahre 2022 haben Fälle der Verbreitung, des Erwerbs und des Besitzes Kinder- und jugendpornografischer Inhalte um 7,4% zugenommen. Dabei geht das BKA von einem hohem Dunkelfeld aus.

Das Internet wird zum Tatmittel und Tatort. Zwar können die auf öffentlichen Plattformen geteilten Missbrauchsdarstellungen entdeckt und ermittelt werden. Doch die Ermittlungsarbeit wird erheblich dadurch erschwert, dass viele strafbaren Inhalte und Darstellungen durch Links im Darknet, bei Online-Speicherdiensten oder in verschlüsselten Messengerdiensten hinterlegt werden. Versteckte Inhalte sind allerdings nur ein Teil des Gesamtpuzzles: Während sich zahlreiche Maßnahmen bereits auf die Eindämmung der Verbreitung von Material über sexuellen Missbrauch von Kindern (Child Sexual Abuse Material; CSAM) konzentrieren, wird das Phänomen der sexuellen Ausbeutung von Kindern per Livestream, bei dem es sich um sexualisierte Gewaltverbrechen handelt, noch nicht hinreichend verstanden. In der Konsequenz wird die Täter/-innen-Konstellation aus OSEC-Händler/-innen und -Konsumenten gegenwärtig im deutschen Sexualstrafrecht nicht abgebildet.

Derzeitige EU-Vorhaben zum Schutz von Kindern greifen zu kurz

Die Unterscheidung der verschiedenen Formen von digitaler Gewalt bedarf eines neuen Pakets an Schutzmaßnahmen, was die Debatte zu dem Kommissionsvorschlag auf EU-Ebene in ein anderes Licht rückt.

Wie wenig das Verbrechen OSEC im Kern verstanden wurde, zeigt sich an den kürzlich veröffentlichten Änderungsanträgen des federführenden Ausschusses des EU-Parlaments und der spanischen Ratspräsidentschaft. Dass der vieldiskutierte Entwurf einer Verordnung zur Prävention und Bekämpfung sexuellen Missbrauchs von Kindern – eingebracht von EU-Kommissarin Ylva Johansson – auf erheblichen Widerstand stößt, verdeutlicht nicht zuletzt die polemische Verkürzung des Papiers auf das Schlagwort “Chatkontrolle”. Gleichzeitig sehen sich Befürworter/-innen der Pläne dem Vorwurf ausgesetzt, Kinderschutz als Totschlagargument zu instrumentalisieren in der angegliederten Debatte um eine Gefährdung des digitalen Datenschutzes durch die Verordnung. Demgegenüber unterstützt aber eine breite Mehrheit der europäischen Bevölkerung die Priorisierung des Kinderschutzes online und offline. Der zuständige LIBE-Ausschuss hat im November 2023 eine Einigung bekanntgegeben, welche diese Woche final verabschiedet wurde. Dieser erkennt zwar die Notwendigkeit an, Kinder vor sexueller Ausbeutung zu schützen. Jedoch herrscht Uneinigkeit, in welchem Ausmaß Schutzmaßnahmen im Internet umzusetzen sind, Internetdienstanbieter in die Pflicht genommen werden müssen zu handeln und inwiefern der digitale Kinderschutz priorisiert werden soll. Unstrittig aber sind die Löschung von Missbrauchsdarstellungen, sowie ein EU-Zentrum, das als Anlauf- und Koordinationsstelle für Internetdienstanbieter und Strafverfolgungsbehörden dienen sowie technische Lösungen gegen das Verbrechen entwickeln und anbieten soll.

Tech-Unternehmen müssen ihrer Verantwortung gerecht werden können

In seiner derzeitigen Form verfehlt der Entwurf aus kinderrechtlicher Perspektive die notwendige Schutzwirkung. So darf die Verantwortung, sich vor sexualisierter Gewalt zu schützen, nicht allein auf Kinder oder ihre Eltern verlagert werden. Tech-Unternehmen müssen gleichfalls Verantwortung dafür tragen, dass die Plattformen, die sie kommerziell im Internet betreiben, nicht für die sexuelle Ausbeutung von Kindern missbraucht werden können. Bestimmte Chatfunktionen oder die Konfrontation mit nicht altersgerechten Inhalten müssen moderiert und technologische Konzepte implementiert werden, die Online-Bedrohungen erkennen und beseitigen, bevor ein Schaden entsteht (Safety-by-Design).

Derzeitige Pläne des EU-Parlaments leisten durch allenfalls eingeschränkte Aufdeckungsanordnungen an die Plattformbetreibenden keinen Beitrag zur Offenlegung des Dunkelfeldes. Vorgesehene Maßnahmen, wie die Einleitung von Ermittlungsarbeiten bei begründetem Verdacht, sind gesetzlich bereits ausreichend verankert. So kann die Menge der entdeckten Missbrauchsdarstellungen und ermittelten Täter/innen kaum erhöht werden. Demgegenüber werden wirksame Technologien, die proaktiv zur Identifizierung von CSAM eingesetzt werden sollten, per se beschränkt. Ermittelnde digitaler Straftaten erfahren durch die vorgesehenen Maßnahmen kaum Unterstützung, Internetdienstanbieter keinen ausreichend verbindlichen Rechtsrahmen.

Die Pläne des EU-Parlaments machen es Plattformen nicht möglich freiwillige Maßnahmen zur Entdeckung von Missbrauchsdarstellungen umzusetzen. Ohne klare Rechtsgrundlage können Unternehmen keine freiwillige Detektion durchführen. Das dadurch entstehende Vakuum führte bereits zwischen 2020 und 2021 zu einem Rückgang der gemeldeten Missbrauchsdarstellungen von über 50 Prozent. In der Folge werden weitaus mehr Betroffene sexueller Ausbeutung per Livestream unentdeckt bleiben, da verfügbare Hinweise auf Verbrechen nicht gemeldet werden. Es muss Unternehmen ermöglicht werden dieses Verbrechen auf Ihren Plattformen zu bekämpfen, vielmehr sogar müssten Unternehmen durch einen klaren rechtlichen Rahmen dazu verpflichtet und effektive Kooperation zwischen Strafverfolgungsbehörden und Plattformanbietern festgeschrieben werden.

E2E-Verschlüsselung schafft Schlupflöcher für Täter

Hochkontrovers diskutiert wird auch die Überprüfung von Ende-zu-Ende-verschlüsselten Anwendungen. Bislang bleibt die Politik Betroffenen darauf eine Antwort schuldig. Denn unfreiwillig schaffen durchaus anerkennenswerte technologische Innovationen Schlupflöcher für Täter. Kontaktanbahnungen zwischen OSEC-Händler/-innen und -Konsumenten geschehen geschützt durch Verschlüsselungstechnologien über einschlägige Foren auf Social-Media-Plattformen, Dating-Webseiten, kommerziellen Webcam-Pornographie-Seiten oder auf Weiterempfehlung aus pädokriminellen Foren. Absprachen und Übertragung des Missbrauchs finden anschließend über gängige Online-Plattformen sowie über verschlüsselte Messenger- und Videodienste statt. Die meisten sexuellen Übergriffe auf Kinder im Internet werden bei privaten Kurznachrichtendiensten verübt. Noch problematischer ist die fehlende Bereitschaft des EU-Rats, die Aufdeckung von bislang unbekannten Missbrauchsdarstellungen gesetzlich zu verankern, sondern stattdessen nur bereits existierende Missbrauchsdarstellungen zu ermitteln. Bestehende Kompromissvorschläge übersehen, dass gerade live gestreamter sexueller Missbrauch von Kindern große Mengen an neuen Missbrauchsdarstellungen produziert. Um dem entgegenzuwirken, braucht es Möglichkeiten, technologiegestützte Detektionsmechanismen und automatisierte Erkennung von Missbrauchsdarstellungen in Safety-by-Design Konzepte zu integrieren. OSEC und die Produktion und Verbreitung von CSAM sind technisch gestützte Verbrechen. Sie zu bekämpfen erfordert entsprechend technisch gestützter Gegenmaßnahmen, die das Risiko entdeckt zu werden für Täter/-innen sowohl auf der Angebots- als auch der Nachfrageseite drastisch erhöhen.

Lösungsansätze sind greifbar

Kinderschutz im Internet in Europa und weltweit zu priorisieren bedeutet, Kinder wie Rosie auf den Philippinen vor sexuellem Missbrauch und Ausbeutung zu schützen. Die notwendigen technologischen Lösungsansätze stehen uns schon heute zur Verfügung. Safety-by-Design etwa kann bedeuten, dass CSAM-Inhalte auf elektronischen Geräten entdeckt werden, bevor sie beim Versenden Ende-zu-Ende-verschlüsselt werden. Im privaten Umfeld können auf den Geräten installierte Klassifikatoren ohne Ausleitung an Strafverfolgungsbehörden angewendet werden, um sexuellen Kindesmissbrauch zu erkennen, Übertragungen zu unterbrechen und so für Straftäter/-innen die Durchführung von OSEC zu einer frustrierenden, weil beschwerlichen Erfahrung werden zu lassen.Die Integrität der Algorithmen ließe sich dabei unabhängig überprüfen, um zu vermeiden, dass sensible Daten von Nutzer/-innen kompromittiert werden. Ohne die Anwendung derartiger technischer Lösungen zur Aufdeckung von OSEC wird es nur schwer möglich sein, Kinder wie Rosie vor sexueller Ausbeutung zu schützen!

Ihre Geschichte macht deutlich: Wenn wir effektiven internationalen digitalen Kinderschutz erreichen wollen, müssen Staaten mit wirksamen gesetzlichen Regelungen reagieren, beteiligte Akteure und Strafverfolgungsbehörden international eng vernetzt zusammenarbeiten und Tech-Unternehmen gewissenhaft zu ihrer Verantwortung im Internet stehen. Nur anhand von Hinweisen und Spurensicherung im Internet war es den philippinischen Strafverfolgungsbehörden möglich, Rosie und ihre Schwestern zu finden und in Sicherheit zu bringen. Kinder wie Rosie brauchen nicht nur Schutz vor Kriminellen in ihrem Heimatland. Sie müssen auch vor Tätern weltweit geschützt werden, die sexuelle Missbrauchsdarstellungen nachfragen – auch in Deutschland.

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