Liana wurde von ihrer eigenen Mutter in die Sexsklaverei verkauft. Ihre Geschichte erzählt von unfassbarer Verletzung. Und von Vergebung. Wie gelang dem Mädchen dieser Weg in der Nachsorge?
Die Sehnsucht nach ihrer Mutter begleitet Liana* seit früher Kindheit. Aufgewachsen bei ihren Großeltern, zieht sie erst mit 14 Jahren zu ihrer Mutter in die Stadt. „Du und ich zusammen. So habe ich es mir immer gewünscht, ich dachte so müsste mein Leben sein“, freut sich Liana. Dann folgt die bittere Enttäuschung: Ihre schwer alkohol- und drogenabhängige Mutter verkauft sie an unzählige Männer für Sex.
Verkauft als Kinderbraut
Der sexuelle Missbrauch ist die eine Last, die Liana zu erdrücken droht. Die andere ist der schwere Vertrauensmissbrauch: Wie kann ihre Mutter ihr das antun? „Ich wusste nicht, dass du so kaputt bist“, sagt Liana ihrer Mutter. „Ich wünschte, deine Liebe hätte wenigstens dafür gereicht, mich zu beschützen. Doch du verletzt mich jeden Tag.“ Nach einigen Monaten verkauft der Stiefvater Liana als Kinderbraut. Die Mutter hindert ihn nicht.
Nachdem Liana die Flucht nach Hause zu ihren Großeltern gelingt, schaltet ihr Großvater die Polizei ein. Lianas Mutter wird verhaftet. Da der Fall eine umfassende Bearbeitung erfordert, bitten die Behörden IJM um Unterstützung. Um sich von ihrem Trauma zu erholen, wird Liana in einer Schutzeinrichtung untergebracht. Dort ist sie regelmäßig in Kontakt mit einer Anwältin und Sozialarbeiterin von IJM.
In Sicherheit, doch Panikattacken quälen Liana
Der Gerichtsprozess gegen Lianas Mutter läuft. Eine Haftstrafe ist ihr sicher, doch trotzdem fürchtet sich Liana: „Es gab Nächte, in denen ich nicht schlafen konnte, weil ich Angst hatte. Wenn meine Mutter jetzt hier wäre, kein Mensch wüsste, was sie tun würde.“ IJM Sozialarbeiterin Jenifer spricht mit Liana über ihre Ängste. Panikattacken überkommen Liana und oft besteht Jenifers einzige Hilfe darin, ihr zu helfen, wieder zu atmen. Eines Nachts ruft Liana Jenifer an. Die Panik hat sie im Griff. Liana will sich umbringen. Jenifer kommt und ist an ihrer Seite. Sie ist die Mauer zwischen Liana und dem tiefen Abgrund, der nach dem Mädchen greift.
Warum hat meine Mutter mir das angetan?
Immer wieder kreist dieselbe Fragen in Lianas Kopf: „Warum hat meinte Mutter mir das angetan? Sie hat mich doch zur Welt gebracht.“ In der Therapie ist Raum für solche Fragen und Zeit. Die Anklagen wechseln sich ab mit Mitleid gegenüber ihrer Mutter. Irgendetwas in Liana versteht, was die Sucht aus ihrer Mutter machte. Ihrem Großvater sagt Liana: „Die Therapie ist schmerzhaft. Doch ich darf meinen Schmerz zeigen. Ich lerne, dass ich weitergehen kann.“
Während des Gerichtsprozesses, sagt ein Beamter zu Liana, dass ihre Mutter vermutlich für lange Zeit ins Gefängnis muss. „Ich wollte nie, dass das passiert“, entgegnet ihm Liana. „Doch es wird besser für sie sein. Im Gefängnis hat sie die Chance, sich zu ändern. Sie kann mit den Drogen aufhören.“ Lianas Mutter wird später zu einer Höchststrafe von 15 Jahren verurteilt.
Lernen eröffnet neue Welten und Träume
In der Schutzeinrichtung nimmt Liana mit den anderen Mädchen und jungen Frauen an Grundkursen für Backen und Kosmetik teil. Das Lernen und Ausprobieren neuer Dinge macht Liana selbstbewusster. Nach sieben Monaten Therapie kehrt sie zurück zu ihren Großeltern und geht dort zurück in die 7. Schulklasse. Zusätzlich nimmt sie an Englischkursen teil und macht ein Training in einem Büro als Assistentin der Geschäftsleitung. Liana will die erste in der Familie sein, die das College besucht. Sie möchte studieren. Vielleicht Medizin oder Jura. „Ich glaube fest daran, dass eine gute Zukunft vor mir liegt“, sagt Liana.
„Mama, ich vergebe dir!“
Ihre Mutter hat Liana nicht vergessen. Im Gegenteil, sie wartet auf den Tag, an dem sie wieder bei ihnen am Tisch sitzt als Teil der Familie. Sie betet für ihre Mutter und schreibt ihr Briefe. Darin steht: „Mama, ich vergebe dir!“
Auch am Ende von Lianas Geschichte steht die Sehnsucht nach ihrer Mutter. Und Liebe. Lianas Heilung zeigt, welches Potential in Mädchen wie Liana steckt. Was Liana brauchte, als sie nachts mit Selbstmordgedanken im Bett lag, war eine Schulter, an die sich anlehnen konnte, um nicht abzustürzen. Eine Therapie gab ihr Raum für alles Schmerzhafte und alle Fragen. So konnte sich langsam eine neue Tür nach draußen öffnen für ein neues Selbstbewusstsein und neue Träume.
Jeder Heilungsweg von Betroffenen von Sexsklaverei und Menschenhandel ist individuell. Wichtig ist in fast allen Fällen jedoch eine professionelle Begleitung durch Psychologen und Sozialarbeiter. IJM arbeitet dazu mit staatlichen Sozialeinrichtungen zusammen und unterstützt die Begleitung vor Ort durch regelmäßige Besuche, immer abgestimmt auf die Bedürfnisse der Betroffenen.