Elena* von IJM Rumänien ist Spezialistin für die Betreuung von Betroffenen von Menschenhandel. Im Interview berichtet die ausgebildete Psychologin und Psychotherapeutin über ihre Erfahrungen bei der Unterstützung von Frauen, die von Menschenhändlern sexuell ausgebeutet wurden.
Viele der Betroffenen, die Elena in Rumänien begleitet, fielen der „Loverboy“-Masche zum Opfer – einer weit verbreiteten Form der Anwerbung und Verschleppung von Mädchen und Frauen in die sexuelle Ausbeutung. Junge Männer geben sich als die perfekten Liebhaber aus, bis das Mädchen oder die Frau emotional von ihnen abhängig ist, um sie dann in die Prostitution zu zwingen.
Elena, was macht die Unterstützung durch einen betroffenenzentrierten Ansatz aus?
Der Unterstützungsprozess beruht auf mehreren Grundsätzen, die für einen betroffenenorientierten Ansatz unerlässlich sind. Einer der wichtigsten Grundsätze ist Sicherheit.
Zu Beginn der Begleitung einer Betroffenen erheben wir ihre Bedürfnisse und die Risiken, denen sie täglich ausgesetzt ist. Auf diese Weise erfahren wir, wie wir diese Bedürfnisse erfüllen und die Risiken verringern können.
Wir müssen dafür sorgen, dass Betroffene in ihrer Umgebung, der Öffentlichkeit und bei ihren täglichen Aktivitäten sicher sind. Wenn sie nicht mehr in ständiger Alarmbereitschaft leben müssen, den Überlebensmodus verlassen und sich sicher fühlen, sind sie in der Lage, Entscheidungen zu treffen und ihre Handlungsfreiheit auszuüben.
Beim Einsatz für die Sicherheit der Betroffenen müssen wir zudem sicherstellen, dass sie in der Interaktion mit uns oder anderen Expertinnen und Experten, Behörden und Systemen, die mit ihnen und für sie arbeiten, nicht retraumatisiert werden.
Ein weiterer wichtiger Grundsatz ist Vertrauen. Wenn wir eine professionelle Beziehung zu den Betroffenen aufbauen und mit dem Prozess zu ihrer Unterstützung beginnen, müssen wir sicherstellen, dass sie uns vertrauen und wir ihnen vertrauen können, damit Unterstützungsmaßnahmen auf ihre tatsächlichen Bedürfnisse und Möglichkeiten zugeschnitten sind.
Der Aufbau von Vertrauen ist ein ständiges Unterfangen und basiert unter anderem auf Ehrlichkeit, völliger Transparenz, einer vorurteilsfreien Haltung und einem kooperativen Ansatz.
Ein wichtiger Grundsatz betrifft auch die Stärkung Betroffener durch die Hilfe zur Selbsthilfe. Alle Schritte, die wir bei der Unterstützung unternehmen, zielen darauf ab, ihnen Kontrolle zurückzugeben, die sie in der Ausbeutungssituation verloren haben.
Damit sollen sie die Kontrolle über ihren Körper, ihre Gefühle, ihre Gedanken, ihre Entscheidungen und letztlich über ihre eigene Zukunft zurückgewinnen.
Diese Stärkung befähigt sie, ihre Persönlichkeit bewusst neu zu strukturieren, ihr Leben neu zu gestalten und sich vor einer Reviktimisierung zu schützen.
Was hält Betroffene von rechtlichen Schritten gegen die Täter ab?
Mangelnde Kenntnisse zu ihren Rechten, die Angst, verurteilt, stigmatisiert und rechtlich für ihre eigene Ausbeutung verantwortlich gemacht zu werden, Misstrauen gegenüber den Behörden – oft als Folge des von Menschenhändlern kultivierten Mythos korrupter Strafverfolgungsbehörden – frühere negative Erfahrungen mit dem Justizsystem, Drohungen und Gewalt, mit denen Täter sie manipulieren, sowie emotionale Bindungen und Abhängigkeitsverhältnisse, die sie zu den Menschenhändlern entwickelt haben.
All dies kann dazu beitragen, dass Betroffene sich weigern, rechtliche Schritte gegen die Täter einzuleiten.
Insbesondere das sogenannte "Love Bombing" (zu Deutsch: Liebesbombardement; manipulatives Überhäufen mit Liebesbekundungen, Anm. d. Red.) während der Anwerbungsphase sowie ungleiche Machtverhältnisse und Missbrauchskreisläufe, Abwertungen und Liebesbekundungen durch die Täter lassen eine sogenannte Traumabindung entstehen.
Diese Traumabindung ist ein komplexer Abwehrmechanismus und eine Folge der Missbrauchsbeziehung zwischen Menschenhändler und Betroffener. Sie äußert sich unter anderem in einer tiefen emotionalen Bindung und in Verhaltensweisen emotionaler Abhängigkeit seitens der Betroffenen gegenüber den Tätern.
Dazu gehören eine Fixierung auf die vermeintlich guten Seiten der Beziehung, während der erlebte Missbrauch ignoriert wird, sowie starke Ängste und emotionale Not, wenn Betroffene versuchen, die Beziehung zu verlassen. Außerdem neigen sie dazu, sich selbst für die erlebte Gewalt und Abwertung verantwortlich zu machen und Rechtfertigungen für den Missbrauch zu finden.
Der Ausstieg aus der Beziehung mit dem Menschenhändler bringt viele negative Emotionen und düstere Zukunftsaussichten mit sich. Dies führt dazu, dass Betroffene zunehmend weniger stabil in ihrem Leben funktionieren oder sich kein anderes Leben mehr vorstellen können. Dadurch fällt es ihnen sehr schwer, sich aus diesen Bindungen zu befreien.
Oft neigen sie sogar dazu, in die missbräuchliche Beziehung zurückzukehren oder neue Beziehungen einzugehen, die demselben Muster folgen.
Eine korrigierende Beziehung zu einer Psychologin oder einem Psychologen sowie zu allen Beteiligten des Betreuungsprozesses hilft den Betroffenen jedoch, Orientierungspunkte wiederzufinden, um gesunde Beziehungen aufzubauen.
Korrigierende Beziehungen sind sichere, vertrauensvolle, unterstützende und kooperative Verhältnisse, die auf einer stabilen Beziehung zu einer Person aus einem sozialen Beruf beruhen.
Sie können den Betroffenen die notwendigen Leitlinien und Beispiele für gesunde, positive Beziehungen bieten, die sie vielleicht nie zuvor erlebt haben, und die sie in ihrem persönlichen Leben entwickeln können.
Diese Leitlinien und die Fähigkeit, neue gesunde Beziehungen aufzubauen, stellen das Selbstwertgefühl der Betroffenen wieder her. Sie helfen ihnen, sich selbst und andere besser zu verstehen und stellen einen entscheidenden Schritt in ihrer gesamtgesundheitlichen Rehabilitation dar.
Dies ermöglicht es den Betroffenen letztlich, bereit zu sein, die Beziehung zu den Menschenhändlern zu beenden. Darüber hinaus werden sie bereit sein, an Gerichtsverfahren teilzunehmen, weil sie erkennen, dass dies wichtig für ihre Rehabilitation und ihren Weg in ein selbstbestimmtes Leben in der Gesellschaft ist.
Wie kann der Kreislauf des Missbrauchs dauerhaft durchbrochen werden?
Für Betroffene ist es entscheidend, psychotherapeutische Hilfe zu suchen und sich aktiv am psychologischen Therapieprozess zu beteiligen. Dieser spielt eine zentrale Rolle bei ihrer Rehabilitation, der Restrukturierung ihrer Persönlichkeit – die durch das Trauma des Menschenhandels erschüttert wurde – sowie beim Erlernen neuer, adaptiver Bewältigungsmechanismen, die maladaptive Muster ersetzen können.
Darüber hinaus stärkt die therapeutische Unterstützung die Resilienz der Betroffenen und bereitet sie darauf vor, gute Entscheidungen für ihre Zukunft zu treffen, damit sie sich vor weiterem Missbrauch und erneuter Viktimisierung schützen können.
Ausschlaggebend für den Rehabilitationsprozess und das Durchbrechen des Missbrauchskreislaufs ist auch, dass den Betroffenen die notwendigen Ressourcen zur Verfügung stehen und ein soziales Hilfsnetzwerk aufgebaut wird.
Intensiver Austausch und Zusammenarbeit von Strafverfolgungsbehörden, Staatsanwaltschaften, Richter/-innen, Sozialarbeiter/-innen, Fachleuten aus dem medizinischen Bereich und der Sozialhilfe können dafür sorgen, dass Betroffene nicht Gefahr laufen, reviktimisiert zu werden.
Ein traumainformierter Arbeitsansatz ermöglicht schnelles Reagieren, eine korrekte Identifizierung und Beurteilung der Betroffenen sowie einen holistischen und kontinuierlichen Prozess der Betreuung von Betroffenen
Wie können wir uns in die Arbeit zur Unterstützung von Betroffenen einbringen?
Der Rehabilitationsprozess verläuft nie einfach und geradlinig. Vielmehr ist er schwierig, langwierig, zyklisch, von Rückfällen geprägt und muss in kleinen Schritten und mit gegenseitigem Vertrauen angegangen werden.
Wir müssen geduldig, mitfühlend und aufgeschlossen sein und den Menschen, denen wir helfen, unser Vertrauen schenken.
Wenn wir ihnen Vertrauen entgegenbringen und ihnen alle Ressourcen zur Verfügung stellen, die sie für den Genesungsprozess benötigen, werden sie letztendlich positive Ergebnisse erzielen.
Wenn wir Betroffenen das Gefühl geben, dass wir sie sehen, hören und ihnen glauben, sie würdevoll behandeln und ihnen helfen, sich Gehör zu verschaffen, werden sie ihren Rehabilitationsprozess selbst gestalten und anleiten.
Nicht nur die institutionellen Bemühungen und die Anstrengungen der Zivilgesellschaft tragen dazu bei. Wir alle können kleine Schritte unternehmen, um die Gesellschaft für die Realität des Menschenhandels zu sensibilisieren und Vorurteile gegenüber Betroffenen abzubauen.
Dies kann große Wirkung auf Betroffene haben und dazu beitragen, dass sie bereit sind, mit Behörden zusammenzuarbeiten, dass sie Maßnahmen vertrauen, die ihre Sicherheit und ihr Wohlergehen gewährleisten sollen und dass sie lernen, wie sie um Hilfe fragen, ihre Bedürfnisse und Gefühle mitteilen ihre Rechte einfordern können.
*Pseudonym: Aus Sicherheitsgründen muss die Identität von IJM-Mitarbeitenden in der Fallarbeit geschützt werden.