assie ist im Süden der Philippinen in den „Bergen“ aufgewachsen. Genauer kann sie den Ort nicht benennen, wo sie die ersten zehn Jahre ihres Lebens aufwuchs. Es gab kein fließendes Wasser, keinen Strom und kein Telefon, erinnert sie sich. Die Familien im Dorf lebten von der Landwirtschaft. Sie tauschten Lebensmittel, sodass Cassie nicht wusste, was Geld ist.
Die Familien hatten keinerlei Kontakt zu der Welt außerhalb der Berge. Als Älteste von 12 Geschwistern half Cassie schon seit früher Kindheit im Haushalt und auf den Feldern mit. Das Leben war schwer und es fehlte an vielem, erzählt Cassie. So besaß sie nicht einmal ein einziges Paar Schuhe.
„In Manila werden alle Träume wahr!“
Als Cassie zehn Jahre alt war, zog ihre Familie in die nächste Stadt, um den Kindern eine bessere Perspektive bieten zu können. Zum ersten Mal ging Cassie zur Schule. Für die Eltern war es schwierig, sich an das Stadtleben zu gewöhnen und Geld zu verdienen. Cassies Mutter arbeitete für ein Ehepaar und regelmäßig unterstützte Cassie sie dort beim Wäsche waschen, kochen und putzen.
Eines Tages war Jose, der Patensohn des Ehepaars, aus Manila zu Besuch. Er bot Cassie und ihren Eltern an, das Mädchen mit nach Manila zu nehmen. Dort könnte sie auf eine bessere Schule gehen. In der Hauptstadt war noch nie jemand aus der Familie gewesen. Doch jeder weiß, was über Manila gesagt wird: Dort können alle Träume wahr werden. Cassie war aufgeregt und wollte unbedingt mit Jose gehen. Ihre Eltern willigten hoffnungsvoll ein.
In Manila angekommen platzte Cassie fast vor Glück. Die Hochhäuser, breiten Straßen und die Menschen mit moderner Kleidung waren für sie völlig neue Eindrücke. Für die Schule bekam sie eine schöne Uniform, Schulbücher und sogar einen Laptop. Voller Stolz ging sie zum Unterricht.

Missbrauch und Ausbeutung verborgen hinter Hauswänden
Im Haus von Jose lebten noch mehr Kinder, die er alle als seine Kinder ausgab. In der Nachbarschaft galt Jose als hilfsbereit und großzügig. Niemand ahnte, was in Joses Haus wirklich passierte. Über das Internet war er Teil eines globalen Netzwerkes von Pädokriminellen, die Kinder über das Internet sexuell ausbeuten. Jose bot die Kinder, die bei ihm lebten, in so genannten Live-Shows an. Nach Anweisungen von zahlenden Sexualstraftätern überall auf der Welt mussten die Kinder vor einer Webcam sexuelle Handlungen ausführen oder wurden von Jose vergewaltigt. Mit diesen Live-Shows verdiente er viel Geld.
Cassie berichtet, wie schmerzhaft diese Zeit des Missbrauchs und der Ausbeutung war. Plötzlich war das große Glück in Manila ein großer Alptraum. Sie fühlte sich allein und beschämt. Sie durfte mit niemanden reden und litt still. Eines Tages brachte Jose ein neues Kind mit nach Hause. Es war ein 11-Monate altes Baby, das er ebenfalls für seine Geschäfte missbrauchte. Cassies Wut und Depression wurden immer stärker. Immer wieder sagte sie: „Ich will sterben.“ Sie wünschte sich, dass sie einfach aufhörte zu atmen und der Alptraum endet.
Plötzliche Befreiung in der Nacht
Als Cassie 16 Jahre alt war, geschah etwas, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Joses Haus wurde mitten in der Nacht von der Polizei gestürmt. Jose wurde kurz zuvor in einer Bar verhaftet. Ein Hinweis von amerikanischen Behörden hatte die philippinische Polizei und IJM zu Joses Haus geführt.
Cassie und die anderen Kinder wurden sofort nach der Befreiung durch Sozialarbeiterinnen von IJM betreut und in eine sichere Nachsorgeeinrichtung gebracht. Am Anfang fühlte sich Cassie schuldig für die Verhaftung von Jose und sie hörte nicht auf zu sagen, dass er gut zu ihr gewesen war. So sehr schämte sie sich für das Geschehene. Eine Therapie half ihr zu realisieren, dass sie keine Schuld trägt. Und dass sie sich nicht schämen musste, dass sie so große Träume in Manila hatte. Im Gegenteil, sie darf träumen und Wünsche haben.

Cassie setzt sich heute für Kinderrechte ein
Cassie ist heute 24 Jahre alt und eine selbstbewusste, junge Frau. Mutig sagte sie vor Gericht gegen Jose aus. Doch Verfahren laufen auch gegen mehrere der Täter aus dem Ausland, die für den Missbrauch bezahlt haben - darunter ein Deutscher.
Cassie selbst bezeichnet sich selbst als Aktivistin. Mutig setzt sie sich ein für Veränderung, um Kinder davor zu schützen, was sie selbst erlebt hat. Gemeinsam mit anderen ehemaligen Betroffenen hat sie deshalb 2023 den philippinischen Zweig des Global Survivor Network (weltweites Netzwerk Betroffener) gegründet. Denn Betroffene wie sie verstehen das Problem am besten und können weltweit erklären, was sich verändern muss. So appellierte Cassie im April 2024 vor dem britischen Parlament an Abgeordnete, mehr gegen die sexuelle Online-Ausbeutung von Kindern zu tun. Außerdem erzählte sie ihre Geschichte in einer ARTE-Dokumentation, die auf das schreckliche Verbrechen aufmerksam macht.
Mit ihrem Wissen berät Cassie aber auch die Arbeit von IJM, um unseren Einsatz für den Schutz von Kindern zu stärken. Aktivistinnen wie sie haben entscheidend dazu beigetragen, mit der IJM Studie Scale of Harm erstmals das Ausmaß des Verbrechens auf den Philippinen aufzuzeigen und damit Regierungen weltweit zum Handeln aufzufordern. Mit ihrem Mut schenkt Cassie nicht nur uns Hoffnung. Gemeinsam mit Aktivistinnen und Aktivisten zeigt sie auch anderen Betroffenen, dass sie das Erlebte überwinden und ein neues Kapitel in ihrem Leben beginnen können.

Dieser Artikel wurde am 24.05.2025 aktualisiert.