arielos* aus Guatemala war 16 Jahre alt, als sie in unmittelbarer Nachbarschaft sexuellen Missbrauch erlebte. Die Täter wussten, dass das Mädchen gehörlos war und nicht sprechen konnte. Sie waren sich sicher, dass Marielos sie nicht verraten könnte. Doch sie wehrte sich auch ohne Worte. Nicht nur für Gerechtigkeit, sondern auch, um ihren Sohn zu beschützen.
Marielos war noch ein Baby, als sie infolge einer schweren Krankheit ihr Gehör verlor. Deswegen konnte sie auch nie lernen zu sprechen. Für einen Mann aus ihrer Nachbarschaft schien sie vollkommen wehrlos zu sein, als er sich zu ihr schlich, um sie zu missbrauchen.
„Er kam in mein Zimmer als ich schlief und hielt mir den Mund zu. Ich fing an zu weinen,“ erinnert sich Marielos.
Später wurde sie von dem Mann erneut angesprochen. Obwohl sie ihn nicht hören konnte, verstand sie seine Drohung: sie sollte schweigen. „Ich bekam Angst und rannte zurück zu meinem Haus,“ erzählt Marielos.
Es war nicht das erste Mal, dass das Mädchen in ihrer vertrauten Umgebung vergewaltigt worden war. In ihrer verarmten Siedlung am Rande von Guatemala-City, ging sie oft nach nebenan, um auf das Kind einer Nachbarin aufzupassen.
Doch eines Tages passte sie der Mann aus der Nachbarschaft auf ihrem Weg ab und begann, sie zu missbrauchen.
Manchmal bot er ihr Geld, oder er bedrohte sie, damit sie schweigen würde. Ihre Mutter Candela* wusste monatelang nicht, dass Marielos missbraucht wurde. Bis das Mädchen eines Tages krank wurde.
„Ihr Arzt sagte, dass Marielos im vierten Monat schwanger war,“ erzählt Candela. „Es war mir unbegreiflich, denn für mich war sie immer noch mein kleines Mädchen.“
Eine unsichere Entscheidung
Auf Anraten des Arztes brachten Marielos und ihre Mutter den sexuellen Missbrauch bei den Behörden zur Anzeige. Aber schon kurz darauf zweifelten sie an ihrer Entscheidung.
Nachdem die Geschichte ihrer Tochter in der Nachbarschaft bekannt wurde, sah sich Candela nicht nur Anfeindungen in ihrer Gemeinde ausgesetzt. Sie hatte auch keinerlei Gewissheit, dass die lokalen Behörden sie ausreichend unterstützen würde.
Im Jahr 2014 gehörte Marielos‘ Fall zu beinahe 13.000 Anzeigen sexualisierter Gewalt in Guatemala. In weniger als 5 Prozent dieser Fälle kam es überhaupt zu einer Verurteilung.
Marielos‘ Nachbar allerdings wurde von der Polizei verhaftet und ihr Fall wurde an IJM vermittelt. Während sie Marielos betreuten, erfuhr das Team von IJM, dass sie nicht nur von ihrem Nachbarn, sondern auch von dem Partner ihrer Mutter missbraucht worden war. Derselbe Mann, der auch seine eigenen beiden Söhne – Marielos‘ Halbbrüder – missbraucht hatte.
Die meisten Fälle sexuellen Missbrauchs in Guatemala werden von Personen verübt, denen die Betroffenen vertrauen. Das Alter und Geschlecht der Betroffenen oder das Beziehungsverhältnis, in dem die Täter zu ihnen stehen, spielen dabei keine Rolle.
Ermittlerinnen und Ermittler von IJM arbeiteten mit der Polizei in Guatemala zusammen, um Candelas Partner zu verhaften und die Familie aus seiner Gewalt zu befreien.
Mit rechtlichem Beistand von IJM fand Marielos den Mut, gegen ihre Peiniger auszusagen. Mithilfe von Zeichnungen, Symbolen und improvisierter Zeichensprache konnte sie erklären, was ihr widerfahren war.
Die Ermittlungen und das Gerichtsverfahren in Marielos‘ Fall sollten Jahre dauern. Aber dank ihrer Aussage konnten die beiden Männer, die Marielos missbraucht hatten, zu Gefängnisstrafen von 16 und 25 Jahren verurteilt werden. Urteile mit Strahlkraft, die potenzielle Sexualstraftäter abschrecken werden.
Ein Kind der Hoffnung
Eine Therapie im Rahmen des Nachsorgeprogramms von IJM half Marielos, das Trauma des Erlebten zu verarbeiten und ihr die Rückkehr in ein eigenständiges Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen.
Dazu gehörte auch, dass Marielos eine Schule für Gehörlose besuchen kann. Dort nahm sie zum ersten Mal in ihrem Leben an einem Kurs für Gebärdensprache teil.
IJM Guatemala begleitete Marielos während ihrer Schwangerschaft bis zur Geburt ihres Sohnes. „Als ich sein Gesicht sah, war ich glücklich,“ sagt Marielos mit einem Strahlen im Gesicht. „Er hat mein Lächeln.“
Trotz der Umstände seiner Geburt ist das Baby zu einem Symbol der Hoffnung und einer Quelle der Einheit für die ganze Familie geworden. Die Männer, die Marielos unfassbar schweres Leid zugefügt haben, wird der kleine Junge dank seiner Mutter nie fürchten müssen.
*Pseudonym