Nach ihrer Befreiung aus einem Bordell in Kalkutta beginnt für Kashi* der lange und beschwerliche Weg ihrer Heilung. In der Nachsorge überwindet sie die traumatisierenden Erlebnisse ihrer Vergangenheit. Heute erhebt sie ihre Stimme im Kampf gegen Sklaverei und sexuelle Ausbeutung. Kashi erzählt ihre schwere Geschichte, um andere Kinder vor einem ähnlichen Schicksal zu schützen.
Unmittelbar nach ihrer Befreiung aus einem Bordell in Kalkutta wird Kashi in einer Nachsorgeeinrichtung untergebracht. Jahre des Missbrauchs und der Isolation machen es ihr schwer, ihre Ängste zu überwinden. Nur sehr zögerlich kann Kashi Vertrauen fassen und sich öffnen, um zu erzählen, was ihr widerfahren ist.
Aufarbeitung braucht Zeit
An Kashis Seite steht IJM Sozialarbeiterin Nanda, mit der sie über ihre Ängste spricht. „Ich erzählte ihr alles, jede Einzelheit. Danach konnte sie mir besser helfen, die Angst aus meinem Kopf zu bekommen und für mich selbst zu kämpfen,“ erinnert sich Kashi.
Aufgrund der bitteren Erfahrungen ihrer Vergangenheit, leidet Kashi unter Depressionen, Panikattacken und Wutausbrüchen. Anderthalb Jahre lang begleitet Nanda sie durch eine psychotherapeutische Behandlung. Mit professioneller Hilfe lernt Kashi, ihre traumatisierenden Erlebnisse langsam zu überwinden.
Die Therapie zeigt erste Erfolge. In Kashi brennt der Wunsch, zur
Schule zu gehen und auf eigenen Beinen zu stehen. IJM findet ein spezielles
Schulprogramm, in dem die mittlerweile 17-jährige Kashi das Lesen-,
Schreiben- und Englischlernen nachholt.
„Kashi war viel älter als ihre Mitschüler, weswegen sie oft verspottet wurde. Anfangs blieb sie sehr in sich zurückgezogen, aber dann überwand sie alle Hürden. Jetzt traut sie sich, aus sich heraus zu gehen und sie selbst zu sein,“ freut sich Nanda.
Mit lauter Stimme gegen Sklaverei und Sexhandel
Begleitet von IJM stellt sich Kashi vor Gericht schließlich den Schatten ihrer Vergangenheit. Obwohl es sie viel Kraft kostet und schmerzvolle Erinnerungen zurückbringt, sagt sie gegen Mitglieder der Familie aus, die sie jahrelang ausgebeutet hat. Es ist das erste Mal, dass Kashi öffentlich ihre Geschichte erzählt, aber es sollte nicht das letzte Mal bleiben.
Gemeinsam mit anderen Betroffenen kämpft sie heute gegen sexuelle Ausbeutung und Sklaverei. Im indischen Rundfunk und Fernsehen sowie bei öffentlichen Auftritten klären sie über Sexhandel und die Folgen für die Betroffenen auf.
Kashi beteiligt sich an Vorgesprächen zu einem nationalen Gesetz gegen Menschenhandel, das im indischen Parlament diskutiert wird. Sie ist überzeugt, dass es jetzt an ihr ist, andere zu schützen:
„Das Einzige, was ich will ist, dass kein anderes Kind erleiden muss, was ich erdulden musste. Den Kampf, die Gesellschaft zu verändern und andere Kinder zu schützen, muss auch ich jetzt führen. Ich weiß, dass ich diesen Kampf gewinnen werde.“ sagt sie überzeugt.
Jenseits der Angst – Kashis neues Leben
Kashi richtet ihre ganze Kraft darauf, eine neue Lebensperspektive zu entwickeln. Sie weiß, dass ihre Vergangenheit dazugehört, aber ihre Zukunft nicht bestimmt. Als Schneiderin in einem sogenannten „Freedom Business“ bildet sie junge Frauen aus, die selbst von sexueller Ausbeutung betroffen waren.
Sie ist stolz, heute ein Vorbild für andere sein zu können und darauf, wie sehr sie sich selbst verändert hat. „Erst wenn man die Dornen hinter sich gelassen hat, erreicht man den Blumengarten,“ beschreibt Kashi ihren Weg und ist dankbar für die Menschen, die ihr beigestanden haben.
Eine Therapie half ihr, schmerzvolle Erinnerungen und Ängste zu verarbeiten. Ihr Weg wurde frei für eigene Ziele und Träume.
„Eines Tages,“ sagt Kashi, „möchte ich Lehrerin werden. Ich möchte Mädchen, die nicht zur Schule gehen können, helfen und ihnen das beibringen, was mich stärker gemacht hat. Ich möchte eine Stimme sein für alle Betroffenen, die Angst haben zu erzählen, was ihnen passiert ist.“
Betroffene sexueller Ausbeutung und Sklaverei haben individuell verschieden Bedürfnisse. Für die Bewältigung traumatischer Erlebnisse ist in den meisten Fällen jedoch eine professionelle Begleitung durch Psycholog/-innen und Sozialarbeiter/innen wichtig.
IJM arbeitet mit staatlichen Sozialeinrichtungen zusammen und unterstützt den Heilungsweg mit regelmäßigen Besuchen. Abgestimmt auf die Bedürfnisse der einzelnen Person möchten wir individuelle Stärken fördern und den Betroffenen ermöglichen, ihre Potentiale zu entfalten.
(*Zum Schutz der Persönlichkeit verwenden wir Pseudonyme. Auch die Bilder zeigen nicht Kashi oder wurden unkenntlich gemacht, um ihre Identität zu schützen.)