Das globale Bewusstsein für die riesige Herausforderung, die Gewalt gegen Frauen und Kinder nach wie vor darstellt, wächst. Denn Übergriffe auf Frauen und Kinder sind allgegenwärtig und gar ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft, der zu massiver Benachteiligung führt. Doch wie lässt sich eine Gesellschaft, an der Frauen und Mädchen gleichberechtigt teilhaben und gestalten können, unter diesen Umständen verwirklichen? Und wie entscheidend sind Konzepte wie “Befreiung” und “Nachsorge”?
Ein Fachbeitrag von Kersten Rieder, Fachreferentin für Politische Arbeit bei IJM Deutschland.
Eine Reise nach Guatemala
Abseits der wunderschönen Vulkanlandschaft der alten Hauptstadt Antigua Guatemala befindet sich das Oasis Residential Home der Organisation Kids Alive International. Hier leben minderjährige Mädchen, die sexuelle Gewalt erfahren haben und – wie der Name schon sagt – in eine “Oase” gebracht wurden, weil ihre Lebensumstände nicht sicher genug waren. Manche von ihnen kommen schwanger in die Gruppe – sie sind teilweise erst 11 Jahre alt. Wenn sie gefragt werden, was ihre größte Sorge ist? “Dass mein Kind mir mein Spielzeug wegnimmt”. Hier gehen sie – oft zum ersten Mal in ihrem Leben – zur Schule, bekommen traumatherapeutische Hilfe, Rechtsbeistand und Begleitung. Sie dürfen sich ohne Angst waschen und nachts friedlich schlafen. Sie bekommen die Unterstützung und Vorbereitung auf das unabhängige Leben in Freiheit, das ihnen von Anfang an zustand – nicht zuletzt um ihrer eigenen Kinder Willen.
Guatemala blickt auf eine bewegte Geschichte von gewaltsamen Auseinandersetzungen und Konflikten zurück, dessen Wurzeln bereits in der Kolonialisierung durch Spanien im 16. Jahrhundert liegen. Besonders indigene Bevölkerungsgruppen wurden unterdrückt und durch Versklavung ausgebeutet. Ein brutaler, jahrzehntelanger Bürgerkrieg, der vor allem zwischen wechselnden Militärregierungen und Guerillagruppen ausgetragen wurde, hatten zahlreiche zivile Todesopfer zur Folge. Massaker und systematische Tötungen lösten wiederrum einen Strom von Geflüchteten in die Nachbarländer aus.
Hier wird deutlich: eine Generation nach der anderen wurde durch blutige Konflikte und Gewalt maßgeblich geprägt. Besonders in der Bürgerkriegszeit kam es zu Massenvergewaltigungen, Folter und anderen Verbrechen gegen die Menschheit. Familien wurden brutal auseinandergerissen und in Armut getrieben. Sie ebneten den Weg für den Aufstieg der Mara (organisierte Kriminalität) die heute immer noch das Gesellschaftsbild prägen. Kinder, die in ihrer Kindheit selbst Gewalt erfahren, wachsen in diesem Gewaltzyklus auf und sind als Erwachsene umso anfälliger selbst gewalttätig zu werden und dieses Muster zu reproduzieren. Demensprechend sind vor allem Frauen und Kinder diesen Strukturen besonders machtlos ausgesetzt. Vor allem dann, wenn diese Taten weitestgehend straffrei bleiben.
Die Macht der strukturellen Gewalt
Gewalt gegen Frauen ist eine Form der strukturellen Gewalt, die das unausgewogene Machtverhältnis zwischen Männern und Frauen verdeutlicht. Für Betroffene hat dies massive Auswirkungen auf ihre Lebensentwürfe: das resultierende Trauma kann verhindern, sich voll und ganz in die Gesellschaft einzubringen. Ein Stigma um den “Opferstatus” führt oft zur Minderung des Selbstwertgefühls bis hin zur Diskriminierung. Die Frauen, die sich um Gerechtigkeit bemühen und negative Erfahrungen mit dem bestehenden Rechtssystemen machen, können durch diese Erfahrung re-traumatisiert werden und verhindern, dass weitere Hilfe aufgesucht wird. Dies macht sie anfällig für jahrelangen Missbrauch und einen Kreislauf der Gewalt, der in vielen Fällen auch ihre Kinder einschließt.
Vor allem Menschen, die in Armut leben sind in ihrem Alltag stärker der Bedrohung durch Gewalt ausgesetzt als andere. Da das Umfeld oft eines ist, in dem der Zugang zu Bildung, dem Gesundheitssystem oder dem Arbeitsmarkt limitiert ist, ist es schwierig aus dem Kreislauf der Armut zu entfliehen. Die damit einhergehende Gewalt wird wenig bekämpft. Denn oft existieren für Menschen in Armut keine funktionierenden Rechtssysteme. Institutionen wie Polizei oder Gerichte stellen sich als unzuverlässig heraus und Betroffene werden nicht ernst genommen. Folglich werden Täter/-innen nicht zur Verantwortung gezogen. Diese Form von Straffreiheit führt dazu, dass sich die Gewalt ohne Ausweg fortsetzt.
Wie wir nachhaltige Veränderung bringen können
Hier setzt der Wirkungsansatz von IJM an: damit ein Rechtssystem verlässlich Menschen schützen kann, indem bestehendes Recht konsistent durchgesetzt wird, arbeitet IJM gezielt in Kooperation mit Regierungen und Behörden, um den Kreislauf der Gewalt zu unterbrechen und nachhaltig zu stoppen. Ein gestärktes Justizsystem bedarf in erster Linie Sensibilisierung und Lösungsansätzen für Polizei und Staatsanwaltschaft. So können Justizbehörden auf Fälle angemessen und früh reagieren und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Femizide sind oft das Resultat kontinuierlicher Gewalt.
Soziale und kulturelle Normen sind Hürden, die oft verhindern, dass Gewalt an Frauen ernstgenommen oder gar anerkannt wird. Wenn die Arbeitsprozesse früh genug auf Prävention geschult sind, verändert das auch andere Formen der Gewalt. Im Fokus steht ein ganzheitlicher Ansatz, der traumasensible Methoden beinhaltet und somit Betroffene bestmöglich während des gesamten Prozesses schützt. Wir sehen in unserer Arbeit, wie davon eine Strahlkraft ausgeht, die durch gründliche Ermittlungsarbeit, über Strafanzeigen hin zu Verurteilungen ihre anhaltende Wirkung gesellschaftlich entfaltet.
Potentielle Täter:innen sind abgeschreckt, was dementsprechend zu einem Rückgang der Gewalt führen kann. Denn nur wenn Institutionen vertrauenswürdig sind und Recht sprechen, können sich Frauen und Mädchen langfristig selbst verwirklichen und gleichberechtigt teilhaben.
Ein betroffenenzentrierter Arbeitsansatz ist deshalb entscheidend, weil Gewalt einer Frau ihre Würde und Handlungsfähigkeit nimmt: Der Anspruch ist, die Erfahrungen und Stimme der Frau zu verstehen und wertzuschätzen, und ihr die notwendigen Werkzeuge an die Hand zu geben, um Traumata aufzuarbeiten und ihre selbstbewusste Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen. Diese Frauen sind Überlebende, keine "Opfer". Diese Unterbrechung des Kreislaufs führt langfristig zu dem gewünschten “Empowerment” im feministischen Diskurs – dem selbstbestimmten Nutzen des eigenen Potenzials, um Veränderung zu bewirken. Nicht weil es von außen zugetragen wurde, sondern weil es durch die Befreiung aus strukturellen Umständen und der ganzheitlichen, traumasensiblen Nachsorge zu einer Wiederentdeckung der inneren Handlungsmacht führt.
Darum ist es wichtig, nicht nur vom Recht her zu denken – sondern auch Betroffene zu Fürsprecherinnen ihrer Selbst zu machen. Ein traumasensibler Ansatz, der Betroffene ernst nimmt – vor allem in der Rechtsprechung – kann nachhaltige gesellschaftliche Änderungen bewirken: Frauen werden zu unabhängigen, handlungs- und entscheidungsfähigen "Agents of Change". D.h., sie setzen sich selbstbestimmt für Veränderung ein.
Was IJM konkret tut
Die Arbeit von IJM Guatemala begann 2005 mit Ermittlungsarbeiten und blickt auf ein starkes Portfolio an Pilotprojekten und mehrjährigen Programmen in Zusammenarbeit mit dem Staatsministerium und der Polizei zurück. Dazu gehört der Aufbau von MAIMI, ein umfassendes Betreuungsmodell von gewaltbetroffenen Frauen, eine Dienstleistung des Staatsministeriums. Hier bekommen Frauen gesundheitliche, psychologische, finanzielle und rechtliche Unterstützung, alles an einem Ort, um unmittelbaren Risiken schnellstmöglich entgegenzuwirken.
Ein multidisziplinäres Team kümmert sich um alle Aspekte der Krisenbetreuung, bis hin zu einer Richterin, die präventive rechtliche Maßnahmen ergreifen kann, um Frauen vor Gewalt zu schützen. Die medizinische Versorgung der Frauen – auch im Falle sexuell übertragbarer Krankheiten – sind 28 Tage nach Eintritt in das Versorgungszentrum hinaus gewährleistet, da diese im Regelfall für viele Menschen in Guatemala nicht bezahlbar sind. Das Versorgungszentrum deckt das Großstadtgebiet ab – jedoch benötigen weite Teile der Bevölkerung im ländlichen Bereich diese Art von Unterstützung. Um den gesamten Bedarf des Landes abzudecken, müssten 22 bis 23 solcher Krisenzentren existieren.
Zur Zusammenarbeit mit der Polizei gehörten über die Jahre diverse Schulungen und Trainings zum traumasensiblen Ansatz für Verantwortungstragende in der Justiz und Strafverfolgung. Dies beinhaltet auch die Sensibilisierung von Polizeibeamt/-innen für geschlechtsspezifische Fragen, damit sie wissen, wie sie Alarmsignale erkennen und auf Frauen, die um Hilfe bitten, angemessen reagieren können. Auch eine technische Unterstützung der Strafverfolgung (Polizei, forensische Einheiten, Staatsanwälte und Richter/-innen) ist erfolgt, damit sie wirksamer und rechtzeitig auf Fälle von Gewalt gegen Frauen reagieren können.
Dies umfasst eine Verbesserung der Ermittlungstechniken und die Unterstützung der Staatsanwälte beim Aufbau von Fällen, damit diese erfolgreich abgeschlossen werden können. Auf der politischen Ebene setzt sich IJM auch für verbesserte Gesetze, Verfahren und Protokolle ein, damit Frauen und Mädchen, die Opfer von Gewalt geworden sind, schneller und wirksamer Gerechtigkeit widerfährt.
Des Weiteren sind zivilgesellschaftliche Organisationen – wie Kids Alive International – wichtige Partner für die ganzheitliche Versorgung von Betroffenen. So stellen wir einen effektiven Zugang zu Recht und eine Begleitung in Respekt und Würde sicher. In verschiedenen Projekten werden Frauen dabei unterstützt, auch finanziell unabhängig zu werden und sich frei zu verwirklichen. Dazu unterstützt IJM die Selbstorganisation von Betroffenen in lokalen “Survivor Chapters” (Gruppen von Betroffenen).
Hier arbeiten wir eng mit diesen Frauen zusammen und unterstützen sie im Aufbau von Netzwerken, bieten ihnen Leadership-Schulungen und die Möglichkeit sich als Fürsprecherinnen politisch und gesellschaftlich zu engagieren. Viele der "Survivors" führen jetzt ihre eigenen Bewegungen, politische Dialoge und stellen öffentliche Forderungen.
Brücken bauen und Rechtssysteme nachhaltig stärken
Die Arbeit von IJM zielt darauf ab, Zyklen der Gewalt durch Stärkung der Rechtssysteme zu unterbrechen und einzudämmen. Der wichtigste Beitrag, wie am Beispiel Guatemalas erkennbar wird, ist die Identifizierung des Bedarfs der Betroffenen: politisch, gesellschaftlich und in den Gemeinschaften vor Ort. IJM schlägt eine wichtige Brücke, indem sie Frauen nicht nur zur Seite steht, sich aus dem Kreislauf der Gewalt zu befreien. Sie unterstützt die Frauen auch dabei, sich vollständig und ganzheitlich von ihren Gewalterfahrungen zu erholen, sodass sie ein Leben in Selbstbestimmung führen und so zu mehr Gleichberechtigung, Gerechtigkeit und Sicherheit in der Gesellschaft beitragen können.
Systematische Gewalt gegen Frauen und Kinder ist keineswegs ein guatemaltekisches Problem, sondern ein weltweites. Gerade infolge des Covid-19 Lockdowns wurde das Ausmaß der Gewalt deutlicher denn je. IJM folgt der festen Überzeugung, dass Rechtssysteme in Entwicklungsländern direkt unterstützt werden müssen, weil ihr Funktionieren unerlässlich ist, um Frauen und Kinder effektiv vor Gewalt schützen zu können.
Ein wichtiger Schritt nach vorne ist die Feministische Entwicklungsstrategie des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), die Anfang März 2023 veröffentlicht wurde. Besonders der spezifische Fokus in den Handlungsfeldern auf Rechte, Ressourcen und Repräsentanz und der damit verstärkt betonte Zugang von Frauen und Kindern zu Recht ist ein wichtiger Meilenstein, um gemeinsam alle Formen von Gewalt gegen Frauen und Kindern im öffentlichen und privaten Bereich zu beseitigen.