45 Tage nach der Wahl haben CDU, CSU und SPD sich geeinigt. Am Mittwoch (09.04) haben sie ihren gemeinsamen Koalitionsvertrag vorgestellt. Der Koalitionsvertrag sei das Ergebnis intensiver Beratungen und Verhandlungen und ein klares Signal, so Merz in der Pressekonferenz zu Vorstellung des Vertrags. Bereits im Vorfeld wurde vor allem über die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands, Steuern und Migration diskutiert. Was aber nimmt sich die neue Regierung vor für den Schutz vor Ausbeutung, Menschenhandel und Gewalt?
Wir haben die Vereinbarungen analysiert – und zeigen, was Hoffnung macht und wo konkrete Maßnahmen fehlen.

Sexuelle Ausbeutung von Kindern im Internet
IP-Adressen
Nach einem Auf und Ab der Ampelkoalition beim Thema IP-Adressen-Speicherung haben sich CDU/CSU und SPD darauf geeinigt, dieses wichtige Instrument zur Ermittlung von Sexualstraftaten im Internet endlich auf den Weg zu bringen (S. 82). Wir müssen sicherstellen, dass unsere Polizeibehörden gut arbeiten können, um Kinder zu schützen! Wir begrüßen diese Maßnahme entschieden. Nach einigen höchstrichterlichen Urteilen der letzten Jahre ist mittlerweile klar, dass eine Speicherpflicht für IP-Adressen verhältnismäßig und grundrechtskonform ist.
Reform des Cyberstrafrechts
Die zukünftige Regierungskoalition will das Cyberstrafrecht reformieren und entsprechende Strafbarkeitslücken schließen (S. 90). Digitale Gewalt, die bisher noch nicht angemessen erfasst ist, soll unter anderem in einem digitalen Gewaltschutzgesetz adressiert werden (S. 91). Zum Änderungsbedarf im Bereich der sexuellen Ausbeutung von Kindern per Livestream sagt Dietmar Roller, Vorstandsvorsitzender von International Justice Mission Deutschland e.V.: „Es ist eine große Lücke unseres Strafrechts, dass Deutsche, die Menschenhändler:innen auf den Philippinen bezahlen und Missbrauch im Livestream schauen oder sogar dirigieren, nicht angemessen als Täter erfasst werden. Wir begrüßen, dass Union und SPD sich diesem Thema annehmen!”
Ausstattung und Befugnisse der Strafverfolgung
Im Koalitionsvertrag wird mehrfach betont, wie wichtig moderne Ausstattung, ausreichend Personal und digitale Befugnisse für Polizei und Sicherheitsbehörden sind – besonders im Kampf gegen Cyberkriminalität (S. 82, 83 und 89). Auch der Einsatz von KI-basierter Datenanalyse (S. 89) kann insbesondere bei der Sichtung und Auswertung von Unmengen von Missbrauchsdarstellungen eine Hilfe sein. Das ist aus Sicht des digitalen Kinderschutzes und der Bekämpfung von Ausbeutung ein richtiger und notwendiger Schritt. Aber: Auf Seite 51 heißt es auch klar, dass alle Maßnahmen unter Finanzierungsvorbehalt stehen. Wer moderne Ermittlungsarbeit und eine “Zeitenwende in der Inneren Sicherheit” (S. 82) ankündigt, muss sie auch möglich machen. Ohne verlässliche Mittel bleiben gute Ansätze nur Versprechen auf dem Papier - und betroffene Kinder weiter in ausbeuterischen Situationen.
Sorgfaltspflichten für Plattformen und Anbieter
Plattformanbieter sollen künftig stärker in die Pflicht genommen werden: Bei systemischen Mängeln in der Entfernung strafbarer Inhalte drohen härtere Sanktionen (S. 90). Außerdem versprechen Union und SPD beim Kinder- und Jugendmedienschutz eine „effektive Rechtsdurchsetzung“ und kündigen an, Anbieter stärker in die Pflicht zu nehmen, um den Schutz junger Nutzer/-innen wirksam umzusetzen (S. 100, 123). Plattformen werden verpflichtet, Schnittstellen für eine effizientere Zusammenarbeit mit Strafverfolgungsbehörden bereitzustellen (S. 91). Im Bereich Digitales betont der Koalitionsvertrag, dass Grundrechte wie die Vertraulichkeit privater Kommunikation und Anonymität im Netz gewahrt bleiben sollen (S. 69). Gleichzeitig heißt es im sicherheitspolitischen Teil, das Spannungsverhältnis zwischen Datenschutz und Sicherheitsinteressen müsse „neu austariert“ werden (S. 82). Wie diese Balance konkret aussehen soll, bleibt jedoch unklar. Klar ist: Kinder haben ein Recht auf Schutz, auch im digitalen Raum!
Diese Vorhaben gehen in die richtige Richtung – sie greifen wichtige Lücken im digitalen Kinderschutz und bei der Strafverfolgung auf. Doch der Schutz bleibt lückenhaft, solange Unternehmen keine klare gesetzliche Verantwortung zur Risikoanalyse und Prävention übernehmen müssen. Gerade im europäischen Kontext, wo z. B. mit dem Digital Services Act und der Debatte um weitergehende Sorgfaltspflichten neue Standards entstehen, ist es entscheidend, dass Deutschland eine klare Position einnimmt. Es braucht verbindliche Anforderungen an Plattformen zur systematischen Aufdeckung, Meldung und Entfernung von Missbrauchsdarstellungen – nicht nur Reaktion auf Hinweise. Der Koalitionsvertrag nennt wichtige Prinzipien, bleibt aber bei der konkreten Durchsetzungspflicht gegenüber Tech-Konzernen zu vage.
Weitere gute Ansätze für den digitalen Kinderschutz finden sich im Koalitionsvertrag ebenfalls: Die erleichterte audiovisuelle Vernehmung von minderjährigen Zeug/-innen (S. 64) – ein Verfahren, das sich etwa bei IJM auf den Philippinen seit Jahren bewährt – ist ein wichtiger Schritt hin zu einer betroffenenzentrierten Justiz. Auch die geplante Strategie zum Kinder- und Jugendschutz in der digitalen Welt (S. 100) begrüßen wir ausdrücklich, plädieren aber dafür, den Fokus über Deutschland hinaus zu weiten – insbesondere auf Kinder, die von hier aus digital ausgebeutet werden. Und schließlich: verpflichtende Altersverifikationen sowie sichere Voreinstellungen für Kinder und Jugendliche (S. 100) sind aus unserer Sicht zentrale Bausteine eines zeitgemäßen digitalen Schutzrahmens.
Menschenhandel
Das Wort Menschenhandel taucht genau einmal im Koalitionsvertrag auf. Besonders die Union hatte vorab das Thema medial ins Rennen gebracht, und sich zunehmend für das sogenannte “Nordische Modell” ausgesprochen, also ein Sexkaufverbot nach Schwedischen Vorbild. Den durchgesickerten Papieren zufolge lehnte die SPD den Vorstoß ab, die Union hingegen den Gegenvorschlag der SPD. Herausgekommen ist folgendes:
"Deutschland ist zu einer Drehscheibe beim Menschenhandel geworden. Die Opfer sind fast ausnahmslos Frauen. Im Lichte der Evaluationsergebnisse zum Prostituiertenschutzgesetz werden wir mit Unterstützung einer unabhängigen Experten-Kommission bei Bedarf nachbessern." (S. 103)
Wir begrüßen das Vorhaben, den Schutz von Menschen vor Ausbeutung in der Prostitution, Zwangsprostitution und Menschenhandel zu priorisieren. Jedoch ist der Bedarf schon längst laut geworden, und Nachbesserungen sind dringend notwendig – und zwar jetzt! Gute Ansätze dazu finden sich im Nationalen Aktionsplan zur Prävention und Bekämpfung des Menschenhandels und Schutz der Betroffenen. Jedoch gibt es laut Koalitionsplan dafür keine gesicherte Finanzierung, um die bestehenden Lücken zu schließen. Diese Lücken sind unter anderem stringente, grenzübergreifende Kooperationen von Strafverfolgungsbehörden und Zivilgesellschaft, um die Continuity-of-Care von Betroffenen Personen zu gewährleisten.
Pakt für den Rechtsstaat
Wir begrüßen, dass im Rahmen des Pakts für den Rechtsstaat eine Verschlankung und Beschleunigung von Verfahrensabläufen und einer personellen Stärkung vorgesehen ist (S.63). Erfreulich ist ebenso das Vorhaben, den Opferschutz in Strafprozessen zu verbessern und die Straffprozessordnung (StPO) grundlegend zu überarbeiten (S. 64). Wir werden uns weiterhin dafür stark machen, dass traumasensible Strafprozesse in Deutschland die Regel werden und ein echtes Non-Punishment-Prinzip in die StPO aufgenommen wird.
Zusammenarbeit
Auch das Prinzip von “Whole Government Ansatz” ist ein guter Vorsatz, um das Silo-Denken der Ministerien aufzubrechen (S. 57) um so ganzheitlicher an das Thema Menschenhandel zur sexuellen- und Arbeitsausbeutung ranzugehen. Dazu gehört auch der Austausch von Daten unter den Sicherheitsbehörden, um den Menschenhandel einheitlicher zu bekämpfen (S.82). Konkrete Maßnahmen bleiben die Parteien an dieser Stelle schuldig.
Auch der Zusammenhang zwischen Arbeitsausbeutung und Schwarzarbeit wird verkannt. Zwar sollen die Finanzkontrolle Schwarzarbeit gestärkt werden (S.48), jedoch die Chance verpasst zu betonen, dass diese eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung von Menschenhandel und Arbeitsausbeutung spielen kann. Einen umfassenden Blick auf ausbeuterische Systeme in Deutschland lassen die Parteien vermissen.
Unterstützungsangebote
Die Bundesförderung von Childhood-Häusern (S.100) etabliert regionale Anlaufstellen für Kinder, die von Gewalt oder Missbrauch betroffen sind, die auch von Minderjährigen Betroffenen von Menschenhandel in Anspruch genommen werden können. Jedoch gibt es keine Finanzierung von flächendeckenden Beratungsstellen für Erwachsene Betroffene von Menschenhandel, die zwingend notwendig sind, um Menschen vor Ausbeutung effektiv zu schützen!
Im Fazit sehen wir viel Bedarf an konkreten Maßnahmen, feste Finanzierungszusagen und die Rechte von Betroffenen in den Fokus zu rücken.

Gewalt gegen Frauen
Im Koalitionsvertrag wird eine ganze Reihe wichtiger Maßnahmen angekündigt, um Frauen besser vor Gewalt zu schützen: Der strafrechtliche Schutz soll ausgeweitet, Anti-Gewalt-Trainings für Täter verpflichtend und insbesondere die Erarbeitung bzw. Umsetzung des Gewaltschutz- und Gewalthilfegesetzes vorangetrieben werden (S. 91). Außerdem wird ein Nationaler Aktionsplan “Gewalt gegen Frauen” erarbeitet. Das sind richtige und überfällige Schritte hin zu einer klareren rechtlichen Grundlage und besseren Unterstützung für Betroffene.
Doch der Blick bleibt national begrenzt. Es fehlt eine internationale Perspektive – etwa auf Frauen, die weltweit Gewalt erfahren oder aufgrund ihres Geschlechts häufiger von Ausbeutung betroffen sind. Auch die Außen- und Entwicklungspolitik von Union und SPD ist nicht daran ausgerichtet, den Zugang von Frauen zu Recht, Schutz, Teilhabe und Gerechtigkeit zu stärken. Zudem fehlen verbindliche Finanzierungszusagen für Projekte, die betroffene Frauen vor Ort unterstützen. Ein umfassender Gewaltschutz braucht mehr als Gesetze – er braucht Ressourcen, eine menschenrechtsbasierte Außenpolitik und globale Solidarität.
Moderne Sklaverei und globale Verantwortung
Menschenrechte in Lieferketten
Im Koalitionsvertrag sprechen sich CDU/CSU und SPD dafür aus, das europäische Lieferkettengesetz (CSDDD) im Rahmen des sogenannten Omnibus-Verfahrens zu entschärfen und zu verschieben (S. 60, 63). Gleichzeitig soll das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) abgeschafft werden. Damit entsteht eine gefährliche Schutzlücke – genau in dem Zeitraum, in dem Millionen von Menschen weltweit auf verbindliche menschenrechtliche Rahmenbedingungen in globalen Lieferketten angewiesen wären. Für Unternehmen, die bereits heute ihrer Verantwortung gerecht werden, bedeutet das nicht nur einen Rückschritt im Menschenrechtsschutz, sondern auch einen Wettbewerbsnachteil. Viele dieser Unternehmen haben in den letzten zwei Jahren – seit Inkrafttreten des LkSG – bereits wirksame Strukturen aufgebaut, um Ausbeutung und Umweltzerstörung zu identifizieren und zu vermeiden. Erste positive Veränderungen auf struktureller Ebene sind spürbar. Aus Sicht von IJM Deutschland – als Mitgliedsorganisation der Initiative Lieferkettengesetz – ist der Rückbau dieser Fortschritte ein schwerwiegender Fehler und die Darstellungen als überbordende Regulierung (S. 62) schlicht verkürzt.
Die EU-Lieferkettenrichtlinie (CSDDD) ist ein notwendiger Schritt für fairen Wettbewerb und menschenrechtliche Verantwortung in globalen Lieferketten. Sie verpflichtet große Unternehmen, Risiken wie Zwangsarbeit oder moderne Sklaverei ernsthaft zu prüfen – und Verantwortung zu übernehmen, wenn sie ihrer Sorgfaltspflicht nicht nachkommen. Wer im Koalitionsvertrag von einer wertegeleiteten Politik spricht (S. 132), muss auch bereit sein, Menschenrechte konsequent zu schützen – gerade am Anfang globaler Lieferketten. Ein Rückzug aus menschenrechtlichen Standards wäre ein Rückzug von Verantwortung.
Entwicklungszusammenarbeit und Humanitäre Hilfe
In den letzten Monaten wurde viel über die Abschaffung des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) spekuliert. Andere Staaten sind diesen Weg bereits gegangen, Deutschland nun jedoch nicht: das BMZ bleibt erhalten. Das begrüßen wir sehr: Entwicklungszusammenarbeit bleibt damit unabhängig und ist durch einen eigenen Sitz am Kabinettstisch vertreten.
Gleichzeitig wird jedoch die sog. ODA-Quote (Official Development Assistance) infrage gestellt. Deutschland steht - wie andere Länder auch - durch verschiedene Selbstverpflichtungen eigentlich in der Schuld 0,7% des Bruttonationaleinkommens in Entwicklungskooperation und Humanitäre Hilfe zu investieren, nun jedoch ist eine “angemessene Absenkung” zur Haushaltskonsolidierung geplant (S.134).
Zur Humanitären Hilfe wird auf S.129 zwar gesagt “[Wir prüfen] ein stärkeres Engagement nach dem Ausfall anderer Geber in wichtigen Bereichen”, in Anbetracht wachsender internationaler Krisen bleibt die Formulierung jedoch vage. Und wie auf S.51 steht, gilt auch hier: “Alle Maßnahmen des Koalitionsvertrages stehen unter Finanzierungsvorbehalt.”

Insgesamt enthält der Koalitionsvertrag einige begrüßenswerte Ansätze, insbesondere im digitalen Kinderschutz. Die Speicherung von IP-Adressen, eine Reform des Cyberstrafrechts sowie mehr Pflichten für Plattformen sind notwendige Schritte, um Kinder besser vor sexueller Ausbeutung im Internet zu schützen. Auch Reformen im Strafprozessrecht setzen positive Impulse. Gleichzeitig zeigt er deutliche Leerstellen beim Schutz vor Menschenhandel, bei der globalen menschenrechtlichen Verantwortung und bei der konsequenten Umsetzung von Gewaltschutz – sowohl national als auch international. Trotz großer Ankündigungen bei der Bekämpfung von Menschenhandel bleibt es bei vagen Formulierungen und fehlenden Maßnahmen – etwa zur Finanzierung spezialisierter Beratungsstellen, zur grenzübergreifenden Strafverfolgung oder zum Schutz Betroffener. Besonders kritisch: Die geplante Abschaffung des deutschen Lieferkettengesetzes und die Verwässerung der EU-Lieferkettenrichtlinie. Damit droht ein gefährlicher Rückschritt für den Schutz von Menschenrechten in globalen Lieferketten – gerade in einer Zeit, in der verbindliche Regeln dringend gebraucht würden.
Wer von einer wertegeleiteten Politik spricht, muss die Rechte und den Schutz von Menschen in Ausbeutung sichtbar priorisieren. Genau das aber bleibt der Vertrag bislang schuldig.