OSEC: Neue Technologien, neue Risiken, neue Chancen

Berlin (18.11.2024) – Am 18. November begehen der Europarat und seit 2022 auch die Vereinten Nationen den Tag für den Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch bzw. den Welttag zur Prävention von und Heilung von sexueller Ausbeutung, Missbrauch und Gewalt an Kindern. In diesem Jahr steht der Tag unter dem Motto: Neue Technologien: Bedrohungen und Chancen für den Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch.

„Die Technik entwickelt sich weiter und wird immer häufiger für missbräuchliche Zwecke genutzt, besonders für die sexuelle Ausbeutung von Kindern im Internet. Jetzt ist die Zeit etwas dagegen zu unternehmen und moderne Technologien zum Schutz von Kindern einzusetzen. Viele Lösungsansätze stehen uns bereits heute zur Verfügung. Wir sollten jetzt Unternehmen verpflichten diese auch einzusetzen und unsere Gesetze an die technologische Realität von Verbrechen anpassen“, so Dietmar Roller, Vorstandsvorsitzender IJM Deutschland e.V., anlässlich des Tages.


Neue Technologie: Missbrauch per Livestream

Es begann mit einer Webcam im Wohnzimmer ihrer Mutter, als Rosies (Pseudonym) Zuhause für sie plötzlich nicht mehr sicher war. Die 10-jährige wird fortan missbraucht, während Täter aus der ganzen Welt dabei zuschauen. Sie bezahlten dafür, sexuelle Handlungen an Kindern wie ihr sehen und „dirigieren“ zu können. Rosies Geschichte ist kein Einzelfall.

Fast eine halbe Million Kinder auf den Philippinen, das heißt etwa jedes 100. Kind, wurden im Jahr 2022 ausgebeutet, um Darstellungen sexuellen Missbrauchs zu produzieren. Dies geht aus Schätzungen der wegweisenden Prävalenzstudie „Scale of Harm“ der Menschenrechtsorganisation International Justice Mission (IJM) und des Rights Labs der Universität Nottingham hervor, die gemeinsam mit ehemaligen Betroffenen dieses Verbrechens entwickelt wurde. Die sexuelle Ausbeutung im Internet hat durch die zunehmende Verbreitung moderner Technologien drastisch zugenommen. Seit einigen Jahren ist die sexuelle Online-Ausbeutung von Kindern z.B. per Livestream, auch als Live-Distanz-Kindesmissbrauch bezeichnet, zu einer weit verbreiteten Form dieser Verbrechen geworden. Europol beschreibt es als die „Hauptform der kommerziellen sexuellen Ausbeutung von Kindern und eine Hauptquelle für unbekannte Darstellungen sexuellen Kindesmissbrauchs.” (S.24).

Und es ist mitnichten ein auf die Philippinen begrenztes Problem: Die sexuelle Online-Ausbeutung von Kindern (engl.: Online Sexual Exploitation of Children; OSEC) ist ein Verbrechen, das im Verborgenen verübt wird und nationale Grenzen überschreitet. Die Täter auf der Nachfrageseite stammen aus aller Welt – auch aus Deutschland. „Deutschland belegt als Nachfrageland Platz 6 der Länder, die am meisten CSAM hosten und verdächtige Transaktionen als Gegenleistung für live-gestreamten Missbrauch tätigen. Außerdem geben fast die Hälfte der deutschsprachigen Befragten einer Darknet-Studie an, bereits Missbrauch im Livestream verfolgt zu haben. Es besteht kein Zweifel: Deutsche Täter verursachen enormes Leid, hierzulande, auf den Philippinen und weltweit!“, sagt Dietmar Roller. Das zeigen auch aktuelle Ermittlungen gegen deutsche OSEC-Täter aus dem Kreis Esslingen und dem Alb-Donau-Kreis oder ein Urteil aus Köln. Dabei sind Ermittlungen bei Livestreaming-Taten oft herausfordernd, da Täter:innen über Landesgrenzen hinweg agieren und das Geschehen meist in Echtzeit stattfindet. Täter und Täterinnen kommunizieren zunehmen über verschlüsselte Messenger, was die Strafverfolgung erheblich erschwert.


Chancen von Technologie für den Kinderschutz

Neue Technologien bringen aber nicht nur Gefahren und neue Arten des Missbrauchs. Durch neue Technologien besteht auch die Möglichkeit, die Identifikation von Betroffenen, den Schutz von Kindern, die Strafverfolgung von Täter:innen und die Prävention zu stärken!

Durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz in Bereichen wie Computervision und maschinellem Lernen ist es möglich, neu erstelltes CSAM sowie Hinweise auf sexuelle Ausbeutung in Echtzeit zu erkennen und zu blockieren. Diese Technologien ermöglichen es insbesondere Plattformen für Bild- und Videoaustausch oder Streaming, illegale Inhalte frühzeitig zu identifizieren und automatisch zu melden. So kann die Produktion und Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen effektiv eingeschränkt werden. Diese innovativen Technologien werden bereits angewendet und stetig weiterentwickelt.

Mit fortschreitenden technologischen Entwicklungen wie künstlicher Intelligenz oder dem Metaverse entstehen auch immer neue Möglichkeiten zum Missbrauch digitaler Anwendungen. Um diesem Mechanismus für gegenwärtige und zukünftige Entwicklungen vorzubeugen, muss der Kinderschutz von Beginn an mitgedacht werden. Anbieter von Diensten müssen angemessene Schritte unternehmen, um sicherzustellen, dass das Wohl des Kindes bei der Gestaltung und dem Betrieb von Diensten eine vorrangige Rolle spielt. Technologie-Konzerne sollen daher ermutigt und verpflichtet werden, Safety-by-Design-Konzepte zu implementieren. „Eine branchenweite ‚Safety by Design‘-Reaktion des Technologie- und Finanzsektors ist von entscheidender Bedeutung, um Missbrauch und Ausbeutung im Vorfeld zu verhindern und zu unterbinden “, so John Tanagho, Direktor des IJM Center to End Online Sexual Exploitation of Children. „Und sie muss auch die Gerätehersteller einbeziehen, denn Smartphones, auf denen hochentwickelte Betriebssysteme laufen, haben bislang keinerlei Sicherheitsvorkehrungen eingebaut, um die Produktion, das Streaming und die Verbreitung von Material über sexuellen Kindesmissbrauch zu verhindern.“  Safety-by-Design könne etwa bedeuten, dass auch in privaten Umfeldern Klassifikatoren ohne Ausleitung an Strafverfolgungsbehörden angewendet werden, um sexuellen Kindesmissbrauch zu erkennen, Übertragungen zu unterbrechen und so für Straftäter/-innen die Durchführung von OSEC zu einer frustrierenden, weil beschwerlichen Erfahrung werden zu lassen.

Schließlich nutzen auch Ermittlungsbehörden neue Technologien um Betroffene zu identifizieren und zu lokalisieren, um sie vor sexueller Ausbeutung zu schützen. IJM arbeitet gemeinsam mit internationalen Strafverfolgungsbehörden und Partnern aus dem Tech-Sektor an technologiegestützten Innovationsprozessen, um das Sortieren und Priorisieren von Hinweisen auf sexuelle Ausbeutung zu vereinfachen. „IJM fordert Regierungen weltweit außerdem auf, eine Reihe von Standardverpflichtungen für Technologieunternehmen zu schaffen, damit diese den Strafverfolgungsbehörden bei Ermittlungen wegen des Verdachts auf sexuellen Kindesmissbrauch schnell belastbare digitale Beweise zur Verfügung stellen“, so Tanagho.


Gesetze müssen sich an neue Technologien anpassen

Um Sexualstraftaten an Kindern, die durch neuere Technologien und das Internet begangen werden, angemessen zu definieren, hat die EU-Kommission im Februar eine überarbeitete Richtlinie präsentiert. Während sich zahlreiche Initiativen bereits auf die Eindämmung der Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen konzentrieren, wird die sexuelle Ausbeutung von Kindern per Livestream oft nicht hinreichend verstanden. Infolgedessen wird die Täterkonstellation aus OSEC-Händler:innen und
-Konsumenten derzeit im deutschen Sexualstrafrecht nicht abgebildet. Als Nachfrageland muss Deutschland Livestreaming als spezifische Straftat in das Strafgesetzbuch aufnehmen. Deutschland muss die Reform des Rechtsrahmens auf EU-Ebene daher entschieden unterstützen. Dies fordert auch die UN-Sonderberichterstatterin für den Verkauf, die sexuelle Ausbeutung und den sexuellen Missbrauch von Kindern in ihren vorläufigen Empfehlungen nach ihrem Deutschlandbesuch im Oktober. Über den Entwurf der neugefassten EU-Richtlinie sagt Mama Fatima Singhateh: „Dies ist ein wichtiger Schritt, um der Realität der technologischen Entwicklungen und der neu auftretenden Risiken des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern Rechnung zu tragen. Ich ermutige die Regierung, die Neufassung der Richtlinie zu unterstützen.“ Dietmar Roller fügt hinzu: „Wir erwarten, dass Deutsche, die Geld zahlen und Anweisungen geben, damit Kinder im Livestream missbraucht werden, jetzt auch angemessen erfasst und kriminalisiert werden. Hier geht es nicht nur um gerechte Strafen und Ausgleich für Betroffene, sondern auch darum, dass Strafverfolgungsbehörden dieses Verbrechen auf dem Schirm haben können.“ Roller unterstreicht: „Im Austausch mit Strafverfolgungsbehörden hören wir, dass eine präzise Definition des Verbrechens enorm hilfreich wäre.“

Um Kinder wirksam vor sexueller Ausbeutung und Missbrauch zu schützen, müssen die Gesetze jetzt dahingehend geändert werden, dass Unternehmen verpflichtet werden, neue Technologien zum Kinderschutz einzusetzen. Jede neue politische oder regulatorische Maßnahme sollte aber im Hinblick auf die Wirksamkeit zur Schadensbegrenzung möglicher unbeabsichtigter Folgen sowie kontinuierlicher Verbesserung evaluiert werden. Technologien müssen unabhängig überprüft und so datensensibel wie möglich gestaltet sein, um die Privatsphäre aller Nutzer:innen zu gewährleisten. Klar ist: Ohne die Anwendung technischer Lösungen zur Aufdeckung von OSEC wird es nur schwer möglich sein, Kinder wie Rosie vor sexueller Ausbeutung zu schützen.

***
Fachbeitrag von Tim Wieck, Koordinator Advocacy und Programme bei IJM Deutschland

[Illustration KI-generiert]

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