ie kannte keine Angst. Weit und breit galt Sadhna als mutigstes Mädchen. Dann wachte sie eiskalt inmitten der Realität von Zwangsprostitution auf: Eingesperrt in einem Bordell in Kalkutta.
An ihre Kindheit erinnert sich Sadhna gerne. Daran, wie sie mit ihrem Vater angeln ging, auf Bäume kletterte und Mangos pflückte. Ihr Zuhause liegt in einem kleinen Dorf in der Nähe von Kalkutta.
Unbeschwert spielte Sadhna fast den ganzen Tag draußen in der Natur – vermeintlich weit weg von Menschenhandel und Zwangsprostitution.
Auch die ständigen Geldsorgen der Familie trübten ihr fröhliches Wesen nicht. „Meine Eltern stritten oft, weil wir nicht genug hatten“, erinnert sich Sadhna.
„Ich träumte davon, eines Tages zu studieren.
Irgendwann würde ich einen guten Job haben, mit dem ich meine Familie unterstützen kann.“
Doch mit einem Tag schienen alle Träume zu platzen.
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Schicksalsschlag aus heiterem Himmel
Plötzlich starb Sadhnas Vater an einer Vergiftung. Sadhna, ihre Mutter und die kleine Schwester blieben mittellos zurück. Mit 11 Jahren verließ Sadhna die Schule, um Geld zu verdienen. Sie verkaufte für umgerechnet 50 Cent pro Woche Kokosfasern, die für Fischernetze gebraucht werden. Das Geld reichte bei weitem nicht. Schweren Herzens zog die Familie nach Kalkutta, um nach Arbeit zu suchen.
Sadhna und ihre Mutter arbeiteten in Haushalten und putzten bis zu 12 Stunden am Tag. Nachts falteten sie Papierblumen, die sie nebenbei verkauften. Nach drei Jahren entschied sich Sadhna nach einer besser bezahlten Arbeit zu suchen. Eine Freundin gab ihr die Telefonnummer von einer Frau, die angeblich eine neue Haushaltshilfe suchte.
Inmitten der Realität von Zwangsprostitution aufgewacht
Sadhna fuhr mit dem Bus zu der Frau nach Hause. Bei ihr angekommen, führte sie Sadhna in einen Raum voller Männer. Überall standen Bierflaschen, ausgedrückte Zigaretten lagen auf dem Boden. „Ich fühlte mich sofort unwohl und wollte wieder gehen“, erzählt Sadhna. „Die Frau sagte, ich solle mich erst einmal hinsetzen und ein Glas Wasser trinken.
Dann wurde alles schwarz vor meinen Augen.“
Als Sadhna wieder aufwachte, fühlte sie sich elend. Ihr ganzer Körper schmerzte. Sie wurde vergewaltigt.
Das war der Anfang ihres Alptraums: Die Frau lässt Sadhna nicht mehr gehen.
Als Sklavin hält sie sie in ihrem Haus fest, in dem sie ein Bordell führt. Sie drohte Sadhna, ihrer Mutter und der kleinen Schwester etwas anzutun, wenn sie sich weigerte.
Angst klammerte sich um Sadhna, ein Gefühl, das sie bisher nicht kannte. Mit jedem Tag mehr verlor sie die Hoffnung, jemals wieder frei zu kommen. Missbrauch und Gewalt werden zum Alltag. Ihre unbeschwerte, fröhliche Art und ihr helles Lachen waren Vergangenheit. Stattdessen legte sich das Gefühl von Scham wie ein Schwergewicht auf sie.
Zwangsprostitution und Menschenhandel von Kindern sind ein schreckliches Verbrechen, das eindeutig gegen geltende nationale Gesetze verstößt. Trotzdem werden Fälle von der Polizei häufig nicht ermittelt oder strafrechtlich verfolgt. Seit 2006 arbeitet IJM in Kalkutta deshalb mit den Behörden zusammen, um minderjährige Opfer aus Zwangsprostitution zu befreien und die Täter festzunehmen.
Verdeckte Ermittler von IJM sind ständig in Kalkuttas Rotlichtmilieus unterwegs und suchen nach Kindern. Seit einigen Jahren ermittelt IJM verstärkt auch in Privaträumen, die – wie in Sadhnas Fall – als Bordell dienen. Betroffene berichten häufig, dass sie brutal geschlagen wurden und hungern mussten. Viele von ihnen werden gezwungen, Drogen und Alkohol zu konsumieren und oft mehr als ein Dutzend Mal am Tag vergewaltigt.
Das Bordell wird gestürmt
Ermittler von IJM wurden auch auf das Bordell aufmerksam, in dem Sadhna gegen ihren Willen lebte. Zusammen mit der Polizei stürmten sie das Haus und nahmen die Frau, die ihre Zuhälterin war, fest.
Als sie Sadhna fanden, hatte sie große Angst.
Eine Sozialarbeiterin von IJM führte sie nach draußen und bestätigte ihr wieder und wieder, dass sie nun frei und in Sicherheit war. Sadhna erfuhr, dass noch zwei oder drei weitere Mädchen im Haus versteckt gehalten wurden. Sozialarbeiter von IJM bringen sie in eine sichere Nachsorgeeinrichtung, in der sie erst einmal schlafen, essen und sich erholen konnten.
Der Schritt zurück – Leben nach der Zwangsprostitution
Psychologen und Sozialarbeiter begleiteten Sadhna in einer auf sie zugeschnittenen Therapie.
Das Erlebte hatte tiefe Wunden hinterlassen.
In der Einrichtung lebte sie mit anderen Mädchen und jungen Frauen, die sexuelle Ausbeutung erfahren hatten. Sadhna beobachtete, wie viele von ihnen wieder nach vorne blickten und Pläne für die Zukunft schmiedeten. Davon motiviert ging Sadhna wieder zur Schule, um ihren Abschluss zu machen.
Mit der Unterstützung von IJM sagte Sadhna fünf Mal im Prozess gegen die Frau aus, die sie in ihrem Haus als Zwangsprostituierte gefangen gehalten hatte. Jedes Mal drohten die Erinnerungen sie einzuholen, doch sie blieb stark. Bis heute zieht sich der Prozess. Aber die Anwälte von IJM bleiben dran, damit Sadhna und die anderen betroffenen Mädchen zu ihrem Recht kommen.
Starke Mädchen fördern
Sadhna ist heute 19 Jahre alt. Sie lebt in einer betreuten Wohngruppe, die sie darin unterstützt, die Schule zu beenden. Auch Sadhnas Schwester kann hier wohnen.
Wenn man Sadhna heute nach ihren Träumen fragt, fällt ihr viel ein.
Sie möchte Soziale Arbeit studieren und sich später für andere Menschen einsetzen.
Engagiert gegen Zwangsprostitution und Menschenhandel ist sie jetzt schon: Im Rahmen einer Aufklärungsveranstaltung hat Sadhna vor vielen Mädchen ihre Geschichte erzählt.
„Ich sehe es als meine Verantwortung an, darüber zu sprechen. Kein Mädchen soll das erleben, was ich durchgemacht habe.“